Schlagwort: Rheinterrassenweg
Erste Begegnung
Kurz vor Osthofen kommt mir ein älterer Herr mit Hund und Walking-Stöcken entgegen. Die Größenverhältnisse zwischen Mann und Hund irritieren: Der Hund, 8 Monate, Mini-Terrier, der auch nicht viel größer werden wird, wie ich erfahre; der Mann, sehr wohlbeleibt, rot im Gesicht von der Hitze und wahrscheinlich auch vom guten Rheinhessenwein.
Ich erkundige mich nach der Entfernung zur Gedenkstätte des KZ Osthofen. Das sei einfach: Bis zum Turm und dann links immer den ehemaligen Bahnschranken entlang, dann rechts bis zur „Fundgrube“, über die Bahnschranken, und schon sei ich da.
Er selbst sei ja noch nie dagewesen. Ob er denn aus Osthofen sei, frage ich. „Ei jo, schun mei Vadder is hier gebürtisch“. Der habe in der Möbelfabrik gearbeitet und auch „e Planzacker“ dort gehabt. „Ich war jo domols noch e Kind. Ich bin jetzt weit iwwer die 70. Wenn do was gewess wär, der hätt doch was vezehlt.“
Er wisse ja nicht, ob das alles stimmt, was man erzähle, er könne sich das gar nicht vorstellen.
Und dann erzählt er von seinem Alltag: Dass er „aa alleens“ sei, dass er vier große Söhne habe, eine gute Rente, früher mit Kindern und Frau erst nach Italien gefahren sei, dann nach Kroatien, aber noch nie in einem Hotel übernachtet habe oder mit dem Flugzeug geflogen sei. Alles mit dem Campingbus. Heute sei er damit allein unterwegs. Aber nur in Deutschland.
Er ist ein sympathischer alter Herr, der sich selbst versorgt, gute Hausmannskost liebt, gern erzählt und der dankbar für jeden neuen Tag ist, den er noch erleben kann. Er hat, was er zum Leben braucht, denn „ das letzte Hemd hat keine Taschen“. Was in der Fabrik passiert ist, das will er nicht wissen, denke ich.
Zweite Begegnung
An der Bahnschranke steht ein älterer Herr, schmal, außergewöhnliche gerade Haltung und wartet neben mir, dass der Zug durchfährt und die Schranke sich öffnet. „Ach, da vorne ist ja die Gedenkstätte“, sage ich mehr zu mir selbst. Der alte Herr dreht sich zu mir um und bestätigt das. „Da ist viel Schlimmes passiert“, sagt er, „viel Leid“.
Ich frage ihn, woher er komme (er spricht Hochdeutsch mit einem harten Akzent). Er stammt aus der Ukraine, lebt aber schon, sehr, sehr lange hier. Sein Vater ist damals 1937 von den Russen verschleppt worden („Stalin!!“). Er hat nie mehr etwas von ihm gehört. Jetzt ist er über 80. Er hat 4 Söhne und eine Tochter. Alle sind verheiratet. Er ist froh, dass seine Familie nach der Vertreibung nach Deutschland gekommen ist. Das war Glück. Hier ist Freiheit und Demokratie und Wohlstand.
Nur der Vater… damals, als der Vater verschleppt wurde, sei er vielleicht 10 Jahre gewesen. Der Vater sei jetzt tot, aber er, der Sohn, habe vier Söhne und eine Tochter…..
Der Zug verfährt vorbei. Die Schranke öffnet sich. Wir verabschieden uns. Ein zufriedener, dankbarer Mann. Ein wenig vergesslich. Mit geradem Rücken – obwohl in eine Last drückt. Was in Osthofen passiert ist, weiß er. „VIEL LEID.“
Osthofen, das Konzentrationslager (verantwortlich: der promovierte Jurist Beck) in einer ehemaligen, leer stehende Papierfabrik 1933 errichtet, nach Schließung des Lagers wegen der Umorganisation des KZ-Systems in Deutschland 1934 Möbelfabrik. Zynisch: Die Papierfabrik gehörte einem jüdischen Osthofener Fabrikanten…
Osthofen war 1933 das einzige staatliche Konzentrationslager für den gesamten „Volksstaat“ Hessen (Rheinhessen, Starkenburg, Oberhessen) mit Regierungssitz in Darmstadt. Die Lage an der Bahnstrecke, die Nähe zum „roten“ Worms und die Tatsache, dass der 5000-Seelen-Ort eine NSDAP-Hochburg gewesen war, mögen zu der Entscheidung für diesen Standort geführt haben.
Die Mehrheit der Häftlinge im Lager war kommunistisch, inhaftiert wurden aber auch Menschen anderer Linksparteien und 114 Juden, die zunächst wegen „politischer Vergehen“ verhaftet worden waren.
Heute ist Osthofen eine eindrucksvolle Gedenkstätte. Eintritt kostenfrei. In einem Teil der ehemaligen Fabrikhallen ist das multimediale Besucherzentrum eingerichtet. Die Verbrechen, die in Osthofen passierten, werden an Einzelschicksalen fassbar. Demütigungen , Misshandlungen, Essensentzug, Eisduschen, Erniedrigung.
Wie in einer Nachrichtensendung werden in Videoeinspielungen Presseberichte aus der Zeit per Video übertragen. Soll noch einer sagen, die Bevölkerung habe von allem nichts gewusst.
Die zweite Halle war der Schlaf- und Aufenthaltsbereich, die heute auch zur Besichtigung freigegeben ist. Die Häftlinge – darunter nachweislich 7 Frauen – schliefen anfangs auf nacktem, nur mit einer dünnen Strohschütte bedecktem Betonboden.
Anna Seghers, mit deren Romanfigur Georg Heisler und seiner Nacht im Mainzer Dom ich diese Wanderung begonnenen habe, flüchtet aus dem KZ Westhofen über Oppenheim nach Mainz. Anna Seghers hat sich da einfach im Namen geirrt. 7 Holzkreuze stehen im Roman auf dem Appellplatz. Für die sieben Flüchtlinge, die wieder gefasst werden sollen. Ein Kreuz bleibt leer.
Nachsatz: In Osthofen wurden keine Gefangene ermordet.
Sonntagabend: Ich sitze im mediterranen Vorgarten des Weinguts Spiess in Osthofen (Gault-Millau, Weinguide 2017) und trinke zum Abschluss dieses mit Eindrücken vollgepackten Tages einen Rieslingsekt als Aperitif. Das Weingut betreibt hier auch ein Restaurant („Vis a Vis“), und ich ahne, dass das Essen ebenso vorzüglich ist wie der Sekt.
Guntersblum bin ich heute morgen nur mit einer Tasse Kaffee und einem Wurstbrot (von gestern) zum Frühstück gestartet. Frühstück gab es erst ab 8 Uhr, aber freundlicherweise wurde ich mit Kaffee und Rosinenbrötchen versorgt. Ich wollte einfach früh los, weil ich nicht wusste, wie ich den Weg schaffe.
Der Ort ist am Sonntagmorgen ausgestorben. Nur das Klick-Klack meiner Stöcke auf dem Gehsteig stört die Sonntagsruhe. Eine Frau zieht am Automaten Zigaretten, ein Mann ist auf dem Weg zu seinem Auto. Danach begegne ich bis Mettenheim keiner Menschenseele.
Schnell bin ich wieder auf der Höhe meines Wanderweges. Der ändert jetzt seinen Charakter. Ich gehe durch immer mehr Hohlwege, die das Wasser im Löß „gebaut“ hat.
Manchmal sind die Lößwände 10 Meter hoch. Lößbienen durchlöchern die Wände. Manchmal ist die Enge in den hohlen Gassen direkt bedrückend. Dschungel-Feeling. Es gibt keinen Notausgang.
Aber alles löst sich oben wieder in Wohlgefallen auf, wenn die Aussicht auf die weite Weinebene wieder in den Blick kommt.
Der Weiler Hangen-Wahlheim oberhalb von Guntersblum hat seine besten Tage hinter sich. Der Dalberger Hof ist eine Bruchbude. Überhaupt hatten hier die Leiningers, die Dalbergers und wie die Adelsgeschlechter mit ihren prachtvollen Residenzen in Mainz alle hießen, hier ihre Pfründe. Und natürlich Lorsch. Das Kloster war DIE Macht, auch in Oppenheim. Der Wein, der seit dem 8. Jahrhundert hier kultiviert wird, war ausschlaggebend. Auch in Hangen-Wahlheim. Kirchenmacht.
Dabei „hat das letzte Hemd keine Taschen“, wie mir ein alter Rheinhesse wenig später so nebenbei mit auf den Weg gibt. Also wandere ich – nur mit 7 Kilogramm beschwert – weiter.
Übrigens noch ein Nachtrag zur „Völkermühle“: Hangen-Wahlheim hieß ursprünglich Walaheimberge. Man vermutet, dass (ahd.) Walah als „Fremder, besonders Romane oder Kelte“ aufzufassen ist. Hatten sich dort Menschen aus der Völkerwanderung angesiedelt? Immerhin gibt es in Rheinhessen auch ein FRIESENheim…..
Der Odenwald ist heute ganz nah, die Konturen der Berge wie ein Scherenschnitt, obwohl der Himmel verhängen ist. Es stört eigentlich nur Biblis die Harmonie, aber wenigstens ist es abgeschaltet.
Gestern schon ist die Ebene unter mir weiter geworden. Aber jetzt komme ich immer mehr an den Oberrheingrabenbruch. Bei Alsfeld (hier steht eine zweite Heidenturmkirche) treffen Rheingraben und Mainzer Becken aufeinander – und von hier an geht mein Weg auch immer mehr in die Ebene. Gegenüber der Kühkopf und Eich, unsere „Wasserversorgungsstation“.
Die Terrassen werden flacher, der Weinanbau breitet sich in der weiten, flachen Ebene aus und rechts von mir kommt das rheinhessische Hügelland in den Blick. Windanlagen inklusive. Um so deutlicher, als ich nach Mettenheim „landeinwärts“ abbiegen, um nach Bechtheim zu kommen, ein Weindorf in einer kleinen Talmulde, vorzüglichen Weinen und einem romanischen Klei nod: Die St. Lambertus Basilika.
Leider ist sie außen ganz eingerüstet. Aber innen ist die Renovierung abgeschlossen. Es ist 12 Uhr mittags, und ich verbringe viel Zeit hier. Auch um dann später den rechten Weg wieder zu finden. Würden die Anrainergemeinden des Rheinterrassenweges ihre Markierungen doch genauso liebevoll gestalten wie ihre Infotafeln (es gibt sogar einen sehr anschaulichen Wein-Aroma-Weg)! Oder würden Sie nicht dauernd neue Pilgerwege kreieren (Ich gehe jetzt nämlich auf dem Terrassenweg, dem Lutherweg UND dem rheinhessischen Jakobsweg!!!), dafür aber wenigstens einen ordentlich markieren. Aber dank Internet und Bauchgefühl finde ich mich wieder auf den Weg nach Osthofen. Wein, Wein, Rüben – das ist Rheinland-Pfalz.
Mittlerweile ist es schwülwarm geworden und ich kämpfe mit mir, ob ich noch zur Gedenkstätte des KZ Osthofen, etwas außerhalb des Ortskerns, gehen soll. Aber warum bin ich sonst so früh aufgestanden?!
Darüber und über drei dazu passende Unterhaltungen im nächsten Blog.
Übrigens: Das Essen im Weingut Spiess war tatsächlich vorzüglich: Fenchel-Orangensüppchen mit Jakobsmuschel, saftiges Kalbskottelet mit Gemüsespaghetti, dazu einen Osthofener Goldberg Riesling. Danach ging kein Dessert mehr. Nur noch Espresso mit köstlichen Schokoladenküchlein. Ich weiß, warum ich keine Pilgerwanderung mache!
Am frühen Samstag morgen trennen sich die Wege von Marlis und mir. Ich gehe Richtung Guntersblum, Marlis fährt mit dem Zug zurück nach Berlin.
Vorher frühstücken wir aber nochmal ausgiebig und wirklich vorzüglich im Hotel Merian.
Es war schön mit dir, liebe Marlis. Es hat Freude gemacht. Und ich kann jetzt auch WhatsApp.
Über die Krämerstrasse komme ich schnell auf meinen Weg. Ein letzer Blick zurück zur Katharinenkirche, dann liegen die Weinterassen vor mir. Sie sind hier besonders gut sichtbar. In unterschiedlichen Höhen gibt es parallele Wege. Einmal steige ich auf dem Hang eine ‚Ebene‘ höher: So habe ich noch eine bessere Aussicht.
Die Rheinebene wird immer weiter, das eigentliche Flussbett ist fast außer Sichtweite. In der Ferne der Odenwald. Ich bin ganz allein unterwegs. Kein Mensch begegnet mir. Nur ein Feldhase schlägt sofort Haken, als ich näher komme
Die Brombeeren sind hier reif, die Mirabellen auch, es gibt Nussbäume ohne Zahl, Kirsch- und Mandelbäume.
Dann irritiert mich ein funkelnagelneues Wegzeichen, das erst kürzlich angebracht worden sein kann : Lutherweg . Ein neuer Pilgerweg! Später erfahre ich, dass der Weg die Reise des Reformators von der Fähre in Nierstein bis nach Worms abbildet. Na, dann!
Bald sehe ich Ludwigshöhe unter mir. Nicht das an der Haardt, das ist noch weit entfernt. Aber Guntersblum ist bereits nah – und dabei ist es erst Vormittag!
Bald liegt eine meterhohe Löss-Abbruchkante vor mir und eine Streuobstwiese an der Sasselbach mit Speierlingsbäumen. Wie ich auf den Infotafeln lese, ist die Baumart sehr selten, hat sehr hartes Holz und wird zum Kelterbau verwendet. Tja, lesen bildet!
Eine gemauerte Quelle lädt zu Rast ein.
Der Vögelsgärtenbrunnen hiess früher mal Victorsquelle nach einem Heiligen und wurde dann im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte zuerst zur Vichel- und später zur Fechel-Quelle (rhoihessisch für Vögel ). Zur Vogelsquelle nach Vogelbach ist es jetzt nur noch einen „Katzensprung“von 13 Tagen!
Durch einen wunderschönen Hohlweg, wie er typisch für Rheinhessen ist, laufe ich auf Guntersblum zu. Und staune dort über eine wunderliche Kirche mit orientalischem Flair. Nein keine Moschee. Die Architektur der Sarazenenturm- oder Heidenturmkirchen mit zwei Türmen, streng geometrisch und mit achteckigen (!) Aufbauten haben Kreuzritter um die erste Jahrtausendwende nach Rheinhessen gebracht. Einer der Türme ist noch von 1100, der andere wurde im 30jährigen Krieg zerstört und später rekonstruiert.
Es gibt noch 3 weitere solcher Kirchen in der Gegend.
Ich schlendere durch Guntersblum. Samstagnachmittag in Rheinhessen. Wochenende. Ab und zu werkelt jemand am Haus oder wäscht das Auto. Ansonsten Ruhe.
Am Kellerwegfest im August stapeln sich hier die Menschen. Jetzt kann man an den wunderbaren alten Höfen, den Fachwerkhäusern und grossherrschaftlichen Anwesen in Ruhe vorbei gehen. Der Ort hat etwas Südländisches mit dem hellen Bruchsteinmauerwerk, dem Oleander, den blühenden Schlingpflanzen. Dazu trägt auch bei, dass nicht alles auf Schickimicki getrimmt ist. Man spürt die Zeit und die Geschichte des Ortes…
Ich wohne und esse im Landhotel Weinhof. Ein Paar, das die Welt gesehen hat, baut sich in alten Gemäuern eine neue Existenz auf. Ich esse traumhaftes Lamm aus der Hüfte mit Ratatouille und Polentaplätzchen. Dazu einen Guntersblumer Spätburgunder.
Aber zu den Übernachtungs- und Restaurantbesuchen auf meiner Wanderung gibt es später Extra was zu lesen. Dann nämlich, wenn irgendwo in Rheinhessen das WLAN funktioniert und ich mein Tablet nutzen kann…
Schlappe 10 Kilometer bin ich heute gelaufen. Morgen wirds anstrengend!
Zum dritten Mal gehe ich den Weg von Bodenheim nach Oppenheim. Jedes Mal in anderer Besetzung: Letztes Jahr im Frühjahr mit Hubert, Dagmar und Dieter – unsere letzte gemeinsame Wanderung mit Hubert. Dann im Spätsommer 2016 mit Annette – das war auch eine Erinnerungswanderung. Jetzt mit Marlis. Und dreimal habe ich mich an denselben Stellen verfranst: Vor Nackenheim und in Nierstein. Das liegt nicht an mir, sondern an der unachtsamen und/oder fehlenden Markierung. Und daran, dass der Weg ordentlich nur von Oppenheim nach Bodenheim markiert ist. Niemand kommt wohl auf die Idee, dass jemand auch andersrum gehen könnte. Meine Bitte an die Verantwortlichen: Überarbeitet die Markierungen auf der gesamten Teilstrecke!
Wir starten nach einem guten Frühstücķ. Bald lassen wir den alten Ortskern von Bodenheim hinter uns, laufen durch halbfertige Neubaugebiete und sind dann mitten in der rheinhessischen Reben-und Rübenlandschaft, die sich bis zum Horizont zieht. Im Wingert werden die Reben geschnitten. Da waren wir in Gonsenheim früher dran, nicht wahr, Konrad und Klaus?
Wie gut, dass ich auf den ersten beiden Etappen nicht allein bin! Meine Schwägerin Marlis ist aus Berlin angereist und begleitet mich bis Oppenheim. Der – noch nicht ganz auskurierten Grippe – geschuldet, nehmen wir von Gonsenheim erst mal die Straßenbahn bis zum Hauptbahnhof.