Frisch geduscht sitze ich nachmittags in Vacha bei Kaffee und Kuchen im Garten von Verwandten eines Freundes aus Mainz. Es gibt Thüringer Rahmkuchen, wahlweise mit Johannisbeeren oder Kirschen. Mit einer ordentlichen Portion Sahne. Herrlich!
Wir reden von Vacha und seinen Fachwerkshäusern, vom Markt mit Gebäuden aus dem 15. Jahrhundert, von den Kelten, die hier, um den Oechsenberg siedelten. Ich höre viel vom Kaliwerk, von den Basaltsäulen, die früher am Oechsen abgebaut wurden, von den Störchen auf dem Storchenturm und von Napoleon, der hier nach seinem Rückzug von der Völkerschlacht bei Leipzig Quartier bezogen hat. Ich höre Geschichten vom Leben an der Grenze vor dem Mauerfall und von der Grenzöffnung und, und, und.
Ich merke – wieder einmal – wie stolz die Menschen auf ihre Region sind und auf das, was sie erreicht haben.
Und dann fahren wir noch ein wenig durch die nähere Umgebung: zur Ruine der Annen-Kapelle aus dem 15. Jahrhundert, wir bewundern von unterschiedlichen Stellen aus die Aussicht auf die Stadt und die umliegenden Berge, wir sehen in der Ferne das hessische Kegelspiel und in der Nähe das benachbarte hessische Philippstal.
„Früher wurden die Lehrerinnen und Erzieherinnen zu Kartoffelernte hierher in den Sperrbezirk beordert. Ich war hellauf begeistert von den weißen und sauberen Häuser die ich im Westen sah.“
Klar, Philippstal boomte in der Nachkriegszeit durch das Kali-Werk.
Am Schluss fahren wir zur Werra-Brücke, der Brücke der Einheit. Sie wurde im 14. Jahrhundert gebaut, um Vacha und Philippstal zu verbinden. Eine herrliche Brücke, die an der Via Regia liegt, der alten west-östlichen Heer- und Handelsstrasse, die auch von Frankfurt nach Leipzig führt.
Und dann durfte sie 40 Jahre niemand überqueren. Weil hier die Grenze verlief. Eine Brücke, die ihren Sinn verloren hatte. Bis 1990 die Grenzen fielen.
Auf der anderen Seite der Brücke von Vachaer Seite aus gesehen fällt ein großes weißes Haus auf. Es ist das Hoßfeldsche Haus, durch das die Grenze lief. Es wurde 1890 erbaut und beherbergte eine Druckerei. Aus steuerlichen Gründen stand es zu 11/12 auf preußischer Seite, der Rest lag auf thüringischem Boden. Als sich 1951 die Grenze mehr und mehr schloss, verlagerte die Besitzerin die Druckmaschinen in der Silvesternacht 51/52 in den hessischen Gebäudeteil und mauerte die Verbindungstür zu. Daraufhin verwehrte die DDR Frau Hoßfeld den Zugang zu dieser Haushälfte. Erst nach dem Grundlagenvertrag wurde das thüringische Zwölftel des Hauses wieder an sie zur Nutzung übergeben.
Abends schwirrt mir der Kopf. Und gleichzeitig war es ein Privileg als Fremde so kundig durch eine Stadt geführt zu werden.
Morgen bin ich wieder allein unterwegs.