Eine wunderbare Reise in einem herrlichen Land ist zu Ende. Auf der Landkarte sieht Chile wie eine skelettierte Wirbelsäule aus. Wir waren bei den Halswirbelsäulen, am Steißbein und irgendwo in der Gegend der Brustwirbeln. Von einem Ende zum anderen, von einem Extrem zum anderen, vom Norden in den Süden. Wir waren in der Atacama, der trockensten und unwirtschlichsten Wüste der Welt, die jeden in seinen Bann zieht, und wir waren in Südpatagonien an Gletschern und Fjorden. Wir waren in Santiago und am Pazifik – und haben doch nur einen kleinen Teil dieses Landes gesehen, das so europäisch wirkt wie kein anderes lateinamerikanisches Land, das ich bereist habe und das doch so fremd ist.
Noch nie habe ich so viele Inlandflüge gemacht, aber das ging bei der begrenzten Zeit nicht anders.
Wir waren zu dritt, und das hat wunderbar funktioniert. Und da meine Schwägerin spanisch spricht, war dies eine zusätzliche Erleichterung, denn englisch wird nicht überall gesprochen.
In seltenen Momenten kam doch ein wenig Wehmut auf. Da habe ich die ganz besondere Vertrautheit mit Hubert auf Reisen vermisst.
Die Chilenen lieben es, Wände zu bemalen, nicht nur in Valparaiso, sondern überall im Land. Mal Politart, mal esoterisch, mal realistisch. Hier eine kleine Auswahl.
Blick von Nerudas Haus auf die Stadt und den Hafen
Schade, dass am Ende so wenig Zeit für Valparaiso blieb. Aber man kann nicht alles haben. Wir fahren die kurvenreiche Küstenstraße nach Süden. Es geht langsam, nicht nur wegen der Kurven, und Straßenlöcher, auch wegen manch anderem Hindernis. So kriechen wir einige Zeit hinter einem Reiter, der 3 weitere Pferde mit sich führt. Vor Vina del Mar bekomme ich zuerst einmal einen kleinen Kulturschock: Wie ein Moloch breiten sich die Hochhäuser dieses, laut Reiseführers mondänen Badeortes an der Küste aus – und gehen dann ohne eigentliche Grenze ins Stadtgebiet von Valparaiso über. Wir parken, wie uns aus Sicherheitsgründen empfohlen wurde, in einem der Parkhäuser am Hafen. Riesige Dampfer liegen dort, und es scheint, dass heute, am Samstag, auch die Marinesoldaten Ausgang haben. Überall trifft man auf junge Männer in ihren leuchtend weißen Uniformen. Ich erwähne dass deshalb, weil das Weiß natürlich besonders heraussticht in dieser Hafenstadt mit ihrem Schmutz und ihren teils verfallenen, aber bunten Häusern und Graffitis. Valparaiso muss seinen besonderen Flair haben, das ahne ich. Der Architekturmix aus Bauten der Kolonialzeit, viktorianischem Stil und modernen Bauten hat seinen Reiz. Neben den hochherrschaftlichen ehemaligen Handelshäuser wirken die bunten Holzhäuschen in den Gassen die Hügel hinauf winzig. Auf den vielen kleineren Plätzen quirrlt das Leben: Lebensmittelmärkte, Flohmärkte, Kunsthandwerk. In den Straßen und Gassen herrscht Einkaufsgedränge. Die Sammeltaxis und O-Busse haben trotzdem noch Platz.
Wir nehmen aus Zeitmangel keinen der berühmten Ascensores, mit denen man auf die Hügel der Stadt fahren kann. Ein Taxi bringt uns hinauf zu Nerudas Haus, dem Sebastiana. Der Dichter hat schon gewusst, wo es sich gut leben lässt. Der Blick über die bunte Stadt und auf den Ozean ist fantastisch. Wieder unten entdecken wir zufällig ein kleines Café am Platz Anibal Punto, das sich anscheinen der Literatur verschrieben hat. In trauter Eintracht sitzen an einem Bistrotisch Neruda und Gabriela Mistral – in Pappmaché, aber mit richtigen Kleider. Ich hätte die erste Literaturnobelpreisträgerin Chiles zuerst für einen Mann gehalten, mit ihren im Profil herben Gesichtszügen und dem grauen Herrensakko. Ich weiß nicht, ob es Zufall war, dass mein Schwager auf der Fahrt zurück nach Santiago dann ein Essay von Siri Hustvedt vorliest: Beeing a man. Von der Ambivalenz der Geschlechter.
Morgens ist es in Zapallar lange diesig. Es dauert, bis die Wolken sich über der Steilküste verzogen haben. Das Leben beginnt deshalb in dem kleinen Urlaubsort etwas später. Nur die Fischer sind am Hafen, Tintenfische werden geschlagen, Muscheln ausgelöst. Pinguine, Möwen und der Wind haben den Strand für sich allein. Wir fahren nach Papudo, einem Familienbadeort eine Bucht weiter nördlich. Hier beginnt gegen Mittag das Strandleben, ungezählte bunte Sonnenschirme – wie in Italien, nur nicht in Reih‘ und Glied, Musik, die unermüdlich tönende Stimme eines Menschen, der wohl irgendetwas anpreist: Bootsfahrten, Karussellfahrten, Lose – ich weiß es nicht. Die Bucht hier ist viel langgezogener als in Zapallar, die beiden Sandstrände grösser. Dementsprechend ist auch die Bebauung. Keine kleinen, hinter Nadelbäumen verstecke Villen, keine Parkanlagen, sondern lang- und hochgestreckte Appartementbauten.
Die Humbolt-Pinguine sind wesentlich kleiner als die Pelikane
Wir fahren mit dem Boot zu einer Insel am Ende der Bucht. Was aus der Ferne wie ein schneebedeckte Eiland im Pazifik aussieht, ist eine vollkommen mit dem Kot von Pinguinen, Möwen und Seelöwen überzogener Fels.
Vater Ozean, wir wissen lange schon, / wie du heißt, alle / Möwen verbreiten / deinen Namen an den Gestaden: / Nun, betrage dich gut, / schüttle deine Mähne nicht, / bedrohe keinen Menschen, / zerschmettere am Himmel nicht / dein herrliches Gebiß, / höre auf mit den ruhmvollen Geschichten / für einen Augenblick, / gib jedem von uns Männern, / jedem / Weib und jedem Kind / einen großen oder kleinen Fisch / an jedem Tag. / Fisch auszuteilen, / geh hinaus auf alle Straßen / der Welt, / und dann / rufe laut, / rufe laut, / daß die Armen dich hören, / alle, die ihre Arbeit verrichten / und sagen, /den Kopf aus der Grube / streckend: / “Dort naht, / Fisch verteilend, /das uralte Meer.”
Es gibt Orte, an die ich gerne noch einmal im Leben zurück kommen möchte: die Lodge ganz oben auf dem Waterberg ist so ein Platz oder die Almhütte am Meraner Höhenweg. In der Erinnerung wird die Casa Wilson in Zapallar bestimmt auch zu solch einem Ort werden. Wir sind mit einem Mietwagen an den Pazifik gefahren. Die Fahrt raus aus Santiago war zuerst ein wenig schwierig: Wir hatten das Navi nicht richtig eingestellt, und ich musste mich auch erst daran gewöhnen, dass von 4 Spuren zwei zumeist nur für Busse und Taxis vorgesehen sind. Aber dann hat alles geklappt, und wir waren zügig auf der Route 5 unterwegs hinunter zum Pazifik.Zapallar liegt nördlich von Valparaíso und ist von den Badeorten dort DER Platz, an dem die „bestimmenden Familien“ (Reiseführer) des Landes Urlaub machen. Wir auch. Ein Chilene hatte am Ende des 19. Jahrhunderts – zurück von einer Europareise – mal einfach so die Idee, die Riviera an den Pazifik zu bringen und den Ort an einer kleinen Bucht „gegründet“. Die luxuriösen Häuser, die in den steilen Hang gebaut sind, folgen keiner Stilrichtung: Bauhaus, Hypermoderne, Jugendstil, Schweizerhaus ( mit Schnitzereien!!) und bayerischer Stil. DIe Gartenanlagen mit den farbenprächtigen Pflanzen – Bougainvillea, Hortensien, Geranien….- die hohen Nadelbäume mögen vielleicht einen gewissen Vergleich mit französischen Badeorten aufkommen lassen, aber das war es denn auch schon. Die wilde Brandung, die an die Granitküste donnert, die Gischt, die meterhoch aufspritzt, das Geräusch der rollenden Steine, die von der Kraft des Ozeans bewegt werden, die Pelikane, Möwen, Geier und Kormorane – das alles hat nicht viel zu tun mit der Riviera. Das atmet seinen ganz eigenen Geist.
Und dann die Casa Wilson. Gebaut wurde sie von einem Sohn deutscher Einwanderer 1905 – Carlos Werner Richter. Der Großvater des jetzigen Besitzers hat sie gekauft. Heute ist das Haus mehr ein Museum als ein Hotel. Die Gäste leben zusammen mit dem Eigentümer – Polospieler wie schon sein Vater – in dem Interieur von damals. Gefrühstückt wird an einer großen Tafel vor einem Kamin. Die Räume sind vollgepackt mit Erinnerungen. Gemälde, Wandteppiche, ein Klavier aus Berlin, Kuckucksuhren, Chippendalemöbel, chinesische Vasen, alte Fotos der Familie und bestimmt weit über 50 Pokale von Poloturnieren aus aller Welt.
Auch die Gästezimmer sind mit den alten Möbelstücken ausgestattet. Das Haus, mit Holzschindeln gedeckt, hat einen morbiden Charme, es müffelt überall ein wenig feucht – aber es ist einfach unvergleichlich (obwohl es wohl kleinen deutschen Standards entsprechen würde). Im baumbestandenen Terrassengarten, der sich bis zum Meer hinunterzieht, gibt es eine Unzahl an Eckchen und Sitzgelegenheiten, in die Jahre gekommene Liegen, Mäuerchen, Grillpätze. Man sitzt hier, blickt über die Bucht hinaus aufs Meer, beobachtet die Brandung, die Pelikane, wie sie mit elegantem Flügelschlag über das Wasser gleiten, sieht die Angler auf den Granitfelsen, die Fischer, die in ihren Booten hinausrudern, die Kinder, die sich am kleinen Sandstrand in die Wellen werfen – und ist verliebt in diesen Platz. Gegenüber erhebt sich ein kleiner Hügel auf einer Halbinsel, zu dessen Spitze ein Weg führt. Alle Arten von Sukkulenten und Kakteen wachsen dort. Ein von der Natur gestalteter Kakteengarten. Ein Spaziergang auf der „Strandpromenade“ um die Bucht herum, über Granitfelsen, mal schwarz, mal graubraun, mal rötlich, kann stundenlang dauern, weil man ständig stehenbleibt, staunt und schaut. Die Urgewalt des Ozeans – hier wird sie erfahrbar. Und dann ist da noch das Restaurant unterhalb der Casa, direkt am Meer. Ganz frische Meeresfrüchte, Fisch, Salate, guter chilenischer Weißwein und einen Pisco sour als Aperitif. Die letzten Tage in Chile. Morgen fahren wir über Valparaiso nach Santiago zurück. Und dann nach Deutschland.
Wir machen wieder kurz Zwischenstation in Santiago. Zum dritten Mal. Die Wege sind jetzt schon ein ganz klein wenig vertrauter. Aber nur ein wenig. Bei unserem zweiten Zwischenstopp hatten wir morgens noch Gelegenheit, einen Spaziergang im Barrio Bellavista zu machen. Das Viertel kommt mir vor wie die bunte, kreative Seite von Santiago. Cafés, Theater, Designer, Kunsthandwerk, Kneipen, Buchhandlungen, studentisches Leben. Auch wenn das Patio Bellavista – eine Einkaufs- und Café-Passagen um 10 Uhr am Morgen noch nicht so richtig wach ist, kann ich mir das Leben am Nachmittag und Abend gut vorstellen.
Hauptattraktion ist allerdings das Haus von Pablo Neruda, das Chascona. Eigentlich ist es kein Haus, sondern es sind 3 Pavillons, die ineinander verschachtelt und mit Treppen verbunden, an einem Hang gebaut wurden mit Blick auf die Berge und einen Garten mit Palmen, Wein, südländischen Pflanzen, Sitzecken, lauschigen Plätzen.
Neruda hat das Haus selbst mit geplant – und es spiegelt seine Poetik: organisch, fließend, und doch auf den Punkt, überbordend, humorvoll, parteiisch, dem Menschen zugewandt. Seine Sammelleidenschaft – seien es Schneeschüttelkugeln aus aller Herren Länder, Volkskunst aus den zahlreichen Stationen seines Exils und seiner Botschaftertätigkeit oder Kuriositäten -fasziniert.
In meinem Haus habe ich große und kleine Spielzeuge zusammengetragen, ohne die ich nicht leben könnte. Das Kind, das nicht spielt, ist kein Kind, aber der Mann, der nicht spielt, hat für immer das Kind verloren, das in ihm lebte und das ihm arg fehlen wird. Ich habe mein Haus auch als Spielzeug gebaut und spiele in ihm von morgens bis in die Nacht. Es sind meine eigenen Spielzeuge. Ich habe sie mein ganzes Leben hindurch gesammelt mit der wissenschaftlichen Absicht, mich allein mit ihnen zu unterhalten.
Aus:Pablo Neruda. Ich bekenne, ich habe gelebt. München 2003
Die zahlreichen Gemälde zeigen Nerudas Verbundenheit mit der bildenden Kunst. Das Esszimmer zeugt vom Genießer und Gastgeber Neruda. Es hat eine niedrige Decke und auch das ganze Interieur ist eine Anspielung auf „Die Verse des Kapitäns“, die Neruda zuerst anonym auf Capri veröffentlichte. Dort lebte er einige Zeit mit seiner großen Liebe und dritten Frau Matilde Urrutia, der die Verse gewidmet sind. Kurz nach Nerudas Tod hat Pinochet das Haus, das ein Gesamtkunstwerk ist, verwüsten lassen, noch während er eine dreitägige Staatstrauer angeordnet hatte. Mathilde Urrutia, die hier mit Neruda lebte, hielt in einem der Wohnräume mit Freunden die Totenwache. Sie durchwachte die Nacht in dem kalten Raum, dessen Fensterscheiben zerbrochen waren.
Dies Bergwelt ist einfach nur grandios. Wir machen eine Tour durch den Nationalpark Torres del Peines. Eigentlich ist es ein Muss hier zu wandern – auf dem W-Trek zum Beispiel. Aber dazu fehlt die Zeit. Also begnügen wir uns mit einer Bustour mit nur einer kleinen Wanderung zum Gletscher Rey. Bizarr geformte Berggipfel, Seen und Lagunen, die in den unterschiedlichsten Blautönen um die Wette leuchten, reißende Flüsse, Wasserfälle, Kaskaden, Wälder, Hängebrücken. Das alles unter einem sich ständig ändernden Himmel. Der Wind treibt die Wolken so schnell, dass die spitzen Turmberge, die dem Park seinen Namen gaben, ständig anders aussehen: mal düster und unheimlich wie im Saurons Mordor, mal verlockend unter blauem Himmel, als sei hier der Eingang zum Elbenland.
Die Türme sind zweifarbig. Heller Granit und dunkles Sedimentgestein umschlingen sich. Es sieht aus, als habe der Turm eine weiße Schärpe um.
Die kurze Wanderung zum Gletscher Grey allerdings wird erschwert, weil das Wetter umschlägt. Durch ein kleines Waldstück, über eine bedenklich schwankende Hängebrücke laufen wir durch den trocken gelegten Teil des Gletschersees und dann auf dem künstlich angelegten Damm entlang. Um den Touristen überhaupt noch einen Blick auf die Gletscherzunge zu ermöglichen, hat man zu diesem Trick gegriffen. Es fängt an zu regnen, der Wind peitscht über den See, es regnet. Ich mache mich schnell zurück in den Bus. Das muss nicht sein.
Das Eis schimmert unwirklich blau, so als wäre es nur eine momentane Farbvorspiegelung, eine Fata Morgana im Eis. Aber die Augen trügen nicht. Die Kamera beweist es (obwohl: Fatamorganen kann man auch fotografieren.) Eis, das Jahrhunderte von Jahren alt ist. Und jetzt schmilzt es seit ein paar Jahrzehnten rapide. Ich denke am Fräulein Smillas Gespür für Schnee und an die Schneekönigin. Aber ich habe es mir noch dramatischer vorgestellt. Größer. Weißer. Die Gletscher sind auch hier wie überall auf dem Rückzug. Und es ist Sommer in Patagonien.
Wir sind morgens mit dem Schiff in den Fjord hinein, an Seelöwen vorbei, die sich auf einem schmalen Felsvorsprung drängen. Die Jungen lernen dort zu springen.
Das Wetter ist diesig, die Sonne kämpft mit den Wolken, schafft es aber nicht. Die Felswände links und rechts des Fjods werden immer steiler und glatter. Wasserfälle stürzen senkrecht in die Tiefe.
Nach dem Balmaceda-Gletscher, den wir vom Schiff aus sehen, geht es weiter zum Serano-Eisfeld. Wir laufen ein Stück durch einen kleinen Wald am Gletschersee bis wir die Zunge erreicht haben. Landmarken zeigen, wie weit der Gletscher seit den 70er Jahren geschrumpft ist. Es kann einem Angst und Bange werden. Zurück auf dem Schiff gibt es Whiskey, mit Gletschereis natürlich. Und dann auf halber Strecke zurück nach Natales, landen wir und essen in einer großen Halle auf einer Estancia zu mittag an weiß eingedeckten Tischen: Suppe, Unmengen von gegrillten würzigen Lammkotellets, Kartoffeln, Salat, Dessert. 300 Menschen werden von einer kleinen Anzahl Personen mit einer Patrona versorgt. Jedes deutsche Qualitätsmanagement hätte seine Freude an den reibungslos ineinangreifenden Prozessesn. Ich fange an zu glauben, dass die Chilenen Talent zum Organisieren haben und dabei vielleicht sogar ein wenig unbürokratischer sind als wir Deutschen. Abends bin ich müde vom vielen Wind auf dem Schiff, dem Whyskey, dem guten Essen und dem Rotwein dazu.
Das Busfahren über weitere Strecken ist in Chile angenehm, sehr organisiert, gut online buchbar – und die Busse sind pünktlich. Jedenfalls kann ich das von der Gesellschaft Bus-Sur sagen, mit der wir jetzt wiederholt unterwegs sind. Von Punto Areas bis nach Puerto Natales sind es 3 Stunden in nördlicher Richtung nahe der Grenze zu Argentinien, mitten durch menschenleeres Gebiet. Nur selten eine Hazienda, eine Ansammlung von Häusern. Kilometerlang eingezäunte Weiden für Rinder und Schafe, flaches braunes Gras- und Buschland bis zum Horizont, dazwischen Wälder mit vom Wind geformten Krüppelakazien und Pinien, die mit graugrünen Flechten überwuchert sind, manchmal ein See mit Flamingos, ein Fluss. Immer wieder Nandus, die aber nur meine Schwägerin entdeckt – ich bin nicht flink genug mit den Augen. Nur selten führt die Straße einen Hügel hinauf. Pampa. Am frühen Abend kommen wir in Natales an. Das ist jetzt ein Ort wie ich ihn mir in dieser arktisnahen Region vorstelle: kleine bunte blechverkleidete Häuser, die sich weit am Fjord entlang den Hang hinauf ziehen, kein Stadtkern im eigentlichen Sinn. Eine Mitte ist höchstens der Platz um die Kirche mit einem Park und modernen öffentlichen Gebäuden. Es gibt eine Unmenge von kleinen Geschäften für den täglichen Bedarf, fürs Trecking oder größere Expeditionen, Hostels, Restaurants, ein schönes Kunsthandwerkszentrum. Natales war schon immer Ausgangspunkt für Forscher und Entdecker. Heute ist es guter Start für einen Besuch des Nationalparks Torre des Peines.
Wir wohnen – wie bisher immer – sehr hübsch in einem familienbetriebenen Aparthotel. „ Vieto Patagonico“ liegt oben am Hang in der Nähe des Busbahnhofes. Zuerst dachten wir, dass wir ein wenig abgehängt von Restaurants und Einkaufsmöglichkeiten seien – in Natales gibt es keinen ortsinneren öffentlichen Nahverkehr. Doch dann stellte sich heraus, dass der Einheitspreis für das Taxi 1.500 Pesos sind, so dass man sich das zu dritt gut leisten kann. Außerdem ist der Fußweg doch nicht so weit wie angenommen. Und drittens fährt uns einer der Söhne der Familie wie selbstverständlich, wenn wir etwa zum Ausgangspunkt einer Tour wollen.
Chile oder Schweden?
Das Haus selbst hat schöne Zimmer, einige mit Küche. Der Clou: Es hat ein ausgebautes Dachgeschoss mit einem Rundumblick auf den Fjord, die Berg- und Gletcherwelt.
Wir haben es also sehr gut, genießen den Abend und nehmen uns auch für den nächsten Tag, dem Geburtstag meines Schwagers – nicht viel vor, außer einer kostenfreien Stadtführung mit einem sehr kündigen jungen Chilenen. Ultimo Esperanca – so heißt der Fjord, an dessen Eingang Natales liegt. Es war die letzte Hoffnung des Seefahrers und Forschers Juan Ladrillero, im 16. Jahrhundert eine westliche Durchfahrt zur Magellanstrasse zu finden. Vergebliche Mühe. Aber der Ort liegt traumhaft schön am Anfang des Fjords, umgeben von den Gipfeln der Cordillere Riesco und den Eisfeldern. Bei Sonnenschein glitzert das Wasser, Schwarzhalsschwäne schwimmen nahe am Ufer, Kormorane besiedelt die Pfahlstege, die Schaumkrönchen der Wellen leuchten blendend weiß.
Und der Wind weht kräftig. Wie fast immer in Patagonien. Man braucht auch im Sommer eine Jacke! Unser Führer erzählt von den Mythen der Ureinwohner, die es nicht mehr gibt und deren nachgebildet Masken man in Souvenirläden erstehen kann, von den Schafbaronen, den Schlachthöfen und Wollfabriken, den Kämpfen der Arbeiter um bessere Arbeitsbedingungen. Er führt uns an der Skulptur eines eiszeitlichen Riesenfaultiers vorbei, dessen Überreste der deutsche Kapitän Eberhard am Ende des 19. Jahrhunderts in einer Höhle in der Nähe fand. Das Skelett war so gut erhalten, dass man auf die Suche nach noch lebenden Exemplaren ging, aber der Milodon darwinii ist schon seit 20.000 Jahren ausgestorben.
Wir erfahren, dass die Engländerin Lady Dixie als erste Frau von hier aus zu den Torres del Peines aufbrach, noch bevor das Land kartographiert war. „Across Patagonia“ heißt das Buch der Feministin, das sie über ihre Erlebnisse geschrieben hat.
Als wir an ein Denkmal kommen, das einen Ureinwohner in Fell bekleidet darstellt, wie er die Hand schüttelt mit einem Padre, bekommen wir Besuch. Der Bürgermeister des Ortes will uns etwas erzählen. Er lobt den jungen Gästeführer und hebt dann zu einer nicht enden wollenden dramatischen Rede an, unterstreicht das pathetisch Vorgetragene mit ausladenden Gesten, wünscht uns dann noch einen guten Tag und geht eiligen Schrittes wieder von dannen.
Eine mindestens ebenso resolute Frau aus Tel Aviv – älter als ich und gerade allein auf einer einjährigen Weltreise – übersetzt mir erst, dass der Bürgermeister einen Lobgesang auf die reichen Mäzene des Ortes gesungen habe, die so viel Gutes für Natales tun , u.a. mit einem Kirchenbau, was nicht hoch genug zu würdigen sei. Dann wiederum hebt die Weltreisende zu einer Gegenrede an: Warum man denn dankbar sein solle – schließlich hätten sich die heute reichen Familien damals einfach das Land genommen, die Arbeiter ausgebeutet, die indigene Bevölkerung gemordet. Da könne man doch heute nicht vor Ehrfurcht applaudieren, das seien doch Almosen. Und was, bitte schön, sollten die ärmeren Bewohner von Natales mit einer Kirche anfangen? Davon würden sich deren Lebensverhältnisse nicht bessern. Am Ende der Führung hat sie dann einen weiteren hochemotionalen Auftritt. In einer Ansprache an die Gäste der Führung, zu denen sie ja auch gehört, appelliert sie, den jungen Stadtführer entsprechend zu entlohnen. Er sei schließlich nur ein Volontee und erhalte keinen gerechten Lohn. Dem folgen denn auch alle. Vielleicht hat die alte Dame da ein wenig des Guten zu viel geredet, denn auch ohne ihren Aufruf hätten alle freiwillig gezahlt.