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Kategorie: Deutschland (Seite 4 von 10)

Der steilste Abhang

Als ich heute morgen aus meinem „Schlossfenster“ schaue, nieselt es immer noch. Die Deutschland-Fahne auf dem Platz hängt nass und schlapp herunter, die Kuppeln der Rhön sind wolkenverhangen, die Wanderschuhe sind von gestern auch noch feucht, weil ich kein Zeitungspapier zur Hand hatte.

Soll ich mir nicht besser gleich ein Taxi zum Hessen Hotelpark Hohenroda nehmen statt durch den Regen zu gehen?

Ich frühstücke erst einmal, kaufe mir dann Schuhwachs und habe mich eigentlich schon längst entschieden, auch bei Nieselregen zu laufen. Allerdings muss ich dazu erst mal wieder hoch zu Point Alpha. Dann auf den Kolonnenweg. Es ist heute morgen so still, die Natur ist so frisch und grün. Ein wunderbares Stück Deutschland, dessen leidvoller Riss einmal genau hier durch ging.

Es bleibt die Narbe.

Ich komme zu dem Punkt, an dem der steilste Abhang des gesamten       1. 400 Kilometer langen Plattenweges ist. Die Lochplatten sind hier entfernt, weil es, so entnehme ich dem Wanderführer, einen tödlichen Unfall bei Crossabfahrten gegeben hat.

Übrigens: Lochplatte ist nicht gleich Lochplatte. Aber das hatte ich schon vor 3 Jahren geschrieben.

Bald bin ich in Wenigentaft. Wie verabredet, telefoniere ich mit dem Hotel, 9 Autominuten entfernt.  Luxus pur. Ich werde abgeholt und relaxe den Rest des Tages, während das Wetter aufklart. Morgen geht es mindestens 20 Kilometer nach Vacha. Da erwarten mich Verwandte eines sehr guten Freundes von Hubert zur Stadtbesichtigung. Wie schön!

Es klart auf. Blick von meinem Hotelzimmer in Hohenroda.

Geisa, Kleinod an der Ulster, leider im Regen


Geisa von Point Alpha aus. Die Vulkankegel sind leider wolkenverhangen.

Geisa, die westlichste Stadt der damaligen Warschauer-Pakt-Staaten, während der Teilung Deutschland isoliert im Sperrgebiet, hat sich nach der Wende zu einem Kleinod an der Ulster entwickelt.

Ein barockes Schlossensemble, das heute die Point Alpha Stiftung mit angeschlossenem Hotel beherbergt, ein neogotisches Rathaus an dem hübschen Markt, eine unversehrte Stadtmauer, gut restaurierte Häuser, Straßen, Plätze und Wege mit Natursteinen gepflastert. Hier übernachte ich im Schloss, trinke Kaffee in der ältesten Bäckerei Thüringens und lasse den Tag ausklingen.

Point Alpha

Aug‘ in Aug‘: Links der Beobachtungsturm der Amerikaner, rechts der Führungsturm der ehemaligen DDR.

Point Alpha – außer Berlin ist das wohl der einzige Ort in Deutschland, an dem sich der „Kalte Krieg“ so deutlich manifestiert hat.

Hier standen sich die beiden konkurrierenden Systeme und Machtblöcke – der Warschauer Pakt und die NATO – bis 1990 gegenüber. Soldaten der US-Armee auf dem Turm des Observation Post Alpha auf Rasdorfer Seite und Grenzer der DDR auf dem Führungsturm auf Geisaer Seite wenige Meter voneinader entfernt, praktisch von Angesicht zu Angesicht.

Der Bundesgrenzschutz

Heute ist das gesamte Gelände – Grenzsicherungsanlagen, das „Haus auf der Grenze“ und das US-Camp eine hervorragend konzipierte Gedenk-, Erinnerungs- und Lernstätte, an der deutsch-deutsche Geschichte erlebbar wird. Authentische Orte, Zeitzeugenberichte, Berichte auch von US-Soldaten über das Leben im Camp, die alten Widerstandslieder der Friedensbewegung, die Möglichkeit zum eigenen „Story telling“ und, und, und.

Jugenderinnerungen werden wach:

An die Angst einer atomaren Auseinandersetzung, denn in meinem Heimatort Bruchmühlbach-Miesau in der Pfalz liegt im Miesau Army Depot das größte Munitionsdepot der US-Armee außerhalb der USA.

An den Rüstungswettlauf, das fragile „Gleichgewicht des Schreckens“, den NATO-Doppelbeschluss, die große Demonstration in Bonn dagegen, an die Menschenketten.

Aber auch der Alltag mit den Amerikanern kommt mir wieder in die Erinnerung, als ich in einer der Ausstellungen in den ehemaligen US-Baracken von den Versuchen gemeinsamer Sportfeste lese.

Hier in Point Alpha hat sich aber alles gebündelt wie in einem Brennglas. Es war der „heißeste Ort im Kalten Krieg“. Hier – so die geostrategischen Überlegungen der NATO, in der hessischen Rhön, wo Ost und West aufeinander treffen, am so genannten Fulda Gap, wäre die beste Möglichkeit für die Pakt-Staaten, in Westeuropa einzumarschieren. Hier könnte die Lage eskalieren, es womöglich zu einer atomaren Auseinandersetzung kommen.

„Eines Morgens brüllt der Radarmann ‚Alarm, Alarm‘ und meldet 50 ostdeutsche Grenzsoldaten direkt am Zaun. Unser Kommandant war kurz davor, die militärische Meldekette nach Fulda und Heidelberg auszulösen. Glücklicherweise löste sich der Rhöner Nebel auf, unten saßen nur große Hasen. Wir hatten gedacht, jetzt kommt der 3. Weltkrieg.“ Vern Croley, Platoon Searant. Zeitzeugenbericht.

Eindrücklich beschreibt Volker Bausch, Direktor der Point Alpha Stiftung, „als die Welt am Abgrund stand – und niemand es merkte“: Im September 1983 wurde bei einem Beobachtungspunkt in der Nähe von Moskau auf dem Kontrollschirm Alarm gemeldet: Eine Minuteman-Rakete ist aus den Vereinigten Staaten gestartet.  Eine zweite, dritte und vierte wird gemeldet, abgefeuert aus Montana. Vier Interkontinentalraketen, jede mit mehreren Atomsprengköpfen bestückt, auf dem Weg in Richtung Sowjetunion. Noch 20 Minuten Zeit.  Eine weitere Rakete startet. Es wird Raketenangriff gemeldet. Hat die atomare Apokalypse begonnen? Jetzt muss der sowjetische Gegenschlag erfolgen. Es war ein Oberstleutnant – Petrow– der eine Entscheidung trifft: Fehlalarm. Erst nach mehreren Minuten melden auch die Bodenradarstationen, dass keine Raketen im Anflug sind. (Detailliert in: Mira Keune, Volker Bausch: Point Alpha. Vom heißen Ort im Kalten Krieg zum Lernort der Geschichte. Anhang. Seiten 77ff. Point Alpha Stiftung 2019).

Angesichts aktuell weltweit wieder aufkommender Kriegsrhetorik, mehr noch, angesichts der Tatsache, dass immer häufiger Konflikte militärisch ausgetragen werden, ist diese Erinnerungs- und Bildungsstätte wichtiger denn je.

Ein Besuch lohnt – auch von Menschen, die nicht wandern.

Weg der Hoffnung

Tür zur Freiheit

Erst wusste ich gar nicht richtig, was das soll. Wahrscheinlich weil ich aus der entgegengesetzen Richtung kam. Vom „Haus an der Grenze“, ein Bildungs- und Erinnerungsort beim Point Alpha oberhalb von Geisa, zieht sich ein Skulpturenweg auf dem ehemaligen Todesstreifen entlang. Auf 1.400 Meter Länge verteilen sich  14 Eisenskulpturen. Am Ende stehen geöffnete Türen. Ich komme die Strecke von Reinhards hinauf zum Point Alpha und gehe quasi durch die Tür hinein statt hinaus.

Die Pieta

„Weg der Hoffnung“ heisst das monumentale Gesamtkunstwerk am Kolonnenweg. Die 1.400 Meter weisen auf die 1.400 Kilometer lange ehemalige innerdeutsche Grenze hin,  die 14 Stationen sind einem christlichen Kreuzweg nachgestaltet.

Das Schweisstuch der Veronika ist ein Spiegel, in dem man sich selbst und/oder den Kolonnenweg sehen kann.

Der Künstler Ulrich Barnickel hat das Kunstprojekt – im Auftrag der Point Alpha Stiftung –  gestaltet als Erinnerung an den Widerstand gegen die ehemaligen Diktaturen in Mittel- und Osteuropa, als Erinnerung an den Freiheitswillen von Menschen und an die Opfer, die viele für ihre Überzeugung gebracht haben.

Es ist unglaublich beeindruckend, aber auch erschütternd.

 

 

Gesundheitsbulletin

Meine nun etwas kleinere Lunge hat sich an mein Wandertempo gewöhnt. Sie hat schnell gelernt.

Blutdruck und Herz freuen sich über soviel Bewegung.

Die Aorta hält still dank des Antikörpers.

Der Hallux mit Arthrose am rechten Zeh macht noch keinen Mucks.

Aber: Da meine neuen Einlagen für die Wanderschuhe nicht rechtzeitig ankamen und ich sie deshalb nicht ordentlich einlaufen konnte, hat sich meine Achillessehne etwas entzündet. Was schmerzhaft ist.

Dank der hervorragenden Diagnosen meines „Schwiegerfreundes“ und meines telefonisch konsultierten Lieblingsorthopäden, wurde folgender Therapieplan erstellt: wenig Doping ( Voltaren), abwechselnd alte und neue Einlagen anziehen, es mit den Kilometern nicht übertreiben – und dann noch das eigens für mich manuell  hergestellte Wundpflaster, das die Stelle entlastet, die beim Abrollen schmerzt.

Heute hat es geholfen, nachdem ich gestern Abend – den Tränen nahe – abbrechen wollte.

 

Grenzziehungen

Die eine Seite des Grenzsteins zeigt zum Großherzogtum Sachsen-Weimar, heute Landkreis Wartburg/Thüringen.

Heute gehe ich von Sperrbezirk (Reinharts) zu Sperrbezirk (Geisa). Und von 16 Kilometern laufe ich  mindestens 12 auf dem ehemaligen Kolonnenweg. Bei Nieselwetter. Aber ich habe ja mein 100-Euro-Cape, leicht wie eine Feder und trotzdem mit sicherem Schutz vor Regen und auch als „Zeltdach“ benutzbar.

Es geht steil hoch und steil runter, und wieder hoch und runter und so fort. Cardio-Training, wie Annette bereits auf der Grenztour vor 3 Jahren zu sagen pflegte. Ich finde es heute ganz gut, schont es doch meine Achillessehne mehr als das ebenerdige Gehen (siehe Gesundheitsbulletin).

Die Westgrenze der sowjetischen Besatzungszone wurde in den Abkommen von London, Jalta und Potsdam festgelegt. Sie verlief über Lübeck, Helmstedt, Eisenach, Hof und orientierte sich dabei an den historischen Grenzen des Wiener Kongresses. Schon damals hatte man Regionen geteilt, die eigentlich zusammen gehörten. Geisa zum lutherischen Grossherzogtum Sachsen-Weimar, das benachbarte Rasdorf zum Königreich Preussen. Ursprünglich gehörten beide zum katholischen Fürstbistum Fulda.

Diese Seite – Königreich Preussen – weist zum Landkreis Fulda/Hessen.

Zufällig entdecke ich in der Nähe des Kolonnenweges einen Grenzstein mit den Inschriften GSW und KP. Der Besitzer des Wassermannshofs klärt mich auf. Und bis heute gehört Rasdorf zum Landkreis Fulda in Hessen, Geisa zum Wartburgkreis in Thüringen. Zwischen diesen beiden Landkreisen wechsle ich seit ein paar Tagen ständig hin und her. Manchmal weiß ich nicht, wo ich gerade bin.

Nur auf dem Plattenweg hat man zynischer Weise immer Klarheit: links (von meiner Gehrichtung aus) ist Hessen, rechts Thüringen. Ich könnte auch sagen: Da herrscht Ordnung und Klarheit.

Aber will ich das?

Freiheit sollte doch auch mit einem gewissen Grad an Chaos zurecht kommen, oder?

 

 

 

 

Buchonia oder das Waldsterben

 

Wie lange noch wird es in der Rhön solche Buchenwälder geben?

Ein großer Teil der Rhön war früher von dichten Buchenurwäldern bedeckt. Die Bezeichnung „Buchonia“ – wohl aus dem Keltischen – heißt Buchenland und war der frühe Name für die Rhön. Mit der Besiedlung vor rund 1000 Jahren begann die Rodung. Der Mensch brauchte Holz als Baumaterial und Energieträger. Aber auch als Waldweide dienten die Buchenwälder, weil die Bucheggern ein Leckerbissen für Schweine und Ziegen waren, die damit gemästet wurden.

So entstand im Zusammenspiel von Rodung und Waldnutzung dieses für die Rhön typische Landschaftsbild von Waldflächen und Bergwiesen, das uns so begeistert. Die UNESCO hat es als  Biosphärenreservat ausgewiesen.

Hier kommt jede Hilfe zu spät. Bei Reinhards.

Nun ist es aber schon länger bedroht. Um „schnelles Holz“ zu machen, hat man vor vielen Jahren begonnen, schnellwachsende Bäume anzupflanzen. Fichten zum Beispiel.  Lärchen und Eschen. Durch den Klimawandel und die damit verbundene Trockenheit wurden sie geschwächt  – der Borkenkäfer hatte leichtes Spiel.

Ganze Hänge sind kaputtgegangen. Und langsam sterben auch die Buchen.

Ökologisch fragwürdig: direkt neben dem Plattenweg in der Nähe von Geisa –  eine Weihnachtsbaumanpflanzung.

Kühe, Schafe, Ziegen und der Hahn auf dem Mist

Tann hat gleich 3 Schlösser – ein rotes, ein gelbes und ein blaues. Bedeutet 3 unterschiedliche Bauepochen, aber auch drei Linien des Adelsgeschlechts derer von Tann. Weil Eberhard von Tann ein Freund Luthers war, wurde die Gegend um Tann evangelisch und führte 100 Jahre Krieg gegen die Äbte von Fulda. Bis heute ist die Region evangelisch, obwohl der Landkreis Fulda als erzkatholisch gilt.

Auch das Stadttor erbaute jener Eberhard, durch das Soldaten aller Länder gezogen sind. Nur die Amerikaner scheiterten 1945: Sie blieben mit dem Kanonenrohr ihres Panzers am Rundbogen hängen.

Am Schlosspark vorbei gehe ich über eine Ulster-Brücke und dann hoch zu Kühen, Schafen, Ziegen und dem  Hahn auf dem Mist.

Wieder kommt mir die Gegend wie aus der Zeit gefallen vor.  Kleine Orte wie Günthers oder Neuswarts liegen in der Flurlandschaft, wo ich zum ersten Mal auch  – noch sehr niedrig stehende Mais- und Gerstenfelder sehe. Ich überquere die Landesgrenze Hessen – Thüringen und bin wieder auf dem Plattenweg. Aufwärts geht es jetzt bis zur Wüstung Selenhof, der wie so viele Gehöfte in den 70er Jahren, abgerissen wurde wegen seiner Nähe zur Grenze. Nur ein Gedenkstein, den die Nachfahren errichteten, erinnert noch daran. Jetzt ist es ein friedlicher Ort zum Rasten mit Blick auf die Kuppeln der Rhön.

Ich gehe durch Buchenwälder und auf Panoramawegen, wechsle zwischendurch immer mal wieder die Landesgrenzen und sehe plötzlich, am ehemaligen Schlagbaum zwischen der Bundesrepublik und der DDR, mein Etappenziel vor mir liegen: den kleinen Ort Reinharts. Aber statt den direkten Weg zu nehmen, „drehe ich noch eine Runde“, steige auf dem Kolonnenweg zum Alten Berg hoch und komme am westlichsten Punkt der ehemaligen DDR  vorbei.

Dann erst geht es nach Reinharts runter, wo meine kleine Enkelin mit den Eltern ein paar Tage Ferien auf dem Wassermannshof machen. Der ist mit seinen vielen Tieren ideal für „Ferien auf dem Bauernhof“. Und in den sehr geschmackvoll eingerichteten Ferienwohnungen im alten Fachwerkgemäuer kann auch ich es gut aushalten. Deswegen gönne ich mir nach einer Tagesetappe von 22 Kilometern einen Ruhetag.

Wandern digital

 

„Sie haben die Tour verlassen. Tour wird angepasst. Tour kann nicht angepasst werden. Gehen Sie zurück.“

Mein Verhältnis zu der Wander-App ist zwiegespalten. Gestern hatte ich sie noch über den grünen Klee gelobt, heute ist sie die Ursache eines holprigen Beginns meiner Tour von Tann nach Reinharts. Und auch wohl der Grund dafür, dass ich statt 20 22 Kilometer zurücklegen musste. Vielleicht lag’s an mir, vielleicht am GPS, jedenfalls  wäre es vielleicht besser gewesen, dem Rat eines Einheimischen zu folgen.

Aber im Großen und Ganzen klappt die Orientierung mit der App. Ich weiß  immer, wo ich bin, auch wenn ich zwischenzeitlich mal kurzfristig „die Tour verlasse“. Zur Not habe ich ja noch Landkarten und die Wegbeschreibung im Wanderführer.

Lediglich manchmal wünschte ich mir ein wenig mehr Emotionen von der Stimme aus dem Off: Schalte ich die Navigation nach einer Rast wieder ein, heißt es „Weiter jetzt“. Ohne Betonung eines der beiden Wörter. Lieber wäre mir eine motivierende Betonung auf „weiter“. Aber man kann nicht alles haben.

Damit dem Handy – und damit auch der App – „der Saft nicht ausgeht“, habe ich es mit einem Kabel an meine Powerbank angeschlossen. Die hängt außen an meinem Rucksack und kann sich auch durch das Sonnenlicht aufladen.

Dass mein Rucksack damit wieder etwas schwerer wird, nehme ich in Kauf.

So geht wohl  Wandern im digitalen Zeitalter.

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