Reisen

Kategorie: Von Mainz bis in die Pfalz 2017

Was es ist, und was es nicht ist

Nein, das ist keine Pilgerwanderung! Fast jedes Mal, wenn ich erzähle, dass ich eine längere Wanderung plane, war die Reaktion: Ach, eine Pilgerwanderung! Oder: Geht es nach Santiago de Compostella?

Es beschleicht mich das Gefühl, dass heutzutage kaum noch jemand wandert – es sei denn, es geht in die Alpen. Nein, „man“ nimmt eine Pilgerroute.   Davon gibt es jedes Jahr mehr. Allein durch die Pfalz führen 5 „Jakobspilgerwege“: ein nördlicher und ein ein südlicher Weg (von Speyer nach Hornbach), dazu eine Verbindungsroute, eine Klosterroute von Worms nach Metz, und seit neuestem auch eine von Wissembourg nach Bad Bergzabern.  Dazu eine Menge erbauliche Literatur, Krimis vom Jakobsweg, Historisches (Seriöses und Historienschinken), Kartenmaterial, Internetseiten, „Übernachtungsmöglichkeiten am Jakobsweg“….. das Pilgergeschäft blüht. Aber das war ja schon vor 1000 Jahren so. Und hilft auch der heimischen Wirtschaft. Trotzdem: Schon eigentümlich in unserer säkularisierten Gesellschaft.

Ich jedenfalls werde nicht pilgern.

Ich wandere. Suche mir Wege durch schöne Landschaften. Meide Straßen. Genieße angenehme Übernachtungsmöglichkeiten und gutes Essen. Und wenn es mir zuviel wird, nehme ich auch mal den Bus.

Auf der Route bleibt es nicht aus, dass ich auch auf markierte Wege mit der „Muschel“ treffe: Von Worms bis Wachenheim an der Pfrimm verläuft heute die „Klosterroute“, die früher mal Nibelungenweg hieß. Und von Lambrecht bis nach Vogelbach gehe ich die Nordroute des Pfälzer Jakobsweges. Das hat seinen Grund: Denn in meinem Heimatort liegt die älteste Kirche der Westpfalz, eine Simultankirche, ein spätromanisches Juwel, das von der UNESCO in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen wurde. Hier entlang des Pfälzer Bruchs führte der Jakobsweg . Auch deshalb, weil das schon bei Kelten und Römern ein bedeutender Verkehrsweg war. Die Kirche ist den Heiligen  Jakobus und Philippus geweiht, aber viel wichtiger ist, dass Hubert und ich dort geheiratet haben. Auch Florian wurde dort zusammen mit Geza getauft.

Deswegen ist meine Wanderung auch ein Weg zurück. 1974 hat mich mein Vater zum Studieren nach Mainz gefahren. Mainz war für mich eine Großstadt – heute denke ich da etwas anders drüber -, aber wenn jemand aus einem 1.300-Seelen-Dorf kommt, 18 Jahre alt ist und über Kaiserslautern und ein paar Besuche in München noch nicht so viel städtisches Leben gesehen hatte, war Mainz –  jedenfalls in den 70er Jahren  – schon etwas Besonderes. Nach über 40 Jahren, in denen ich jetzt in Mainz lebe, ist mir die „Großstadt“ von einst vetraut geworden.  Oft denke ich: Mainz ist ein Dorf! Kein Einkauf, kein  Theaterbesuch, keine Veranstaltung, ohne dass ich  Bekannte treffe.

Zeit, sich auf den Weg in die Heimat zu machen.

Der Rucksack

Schon erstaunlich, auf was der Mensch so alles verzichten kann. Für 16 Tage geht alles in einen 28-Liter-Rucksack.  Funktionsunterwäsche und der Gedanke, dass ich ja alles selbst schleppen muss, machen das möglich.  7,5 Kilo – mehr will ich meinem Rücken nicht zumuten. Das Gute dabei ist, wie meine Freundin Beate meint: Du musst morgens nicht überlegen, was du heute anziehen sollst.

 

„Man kann gewisse Dinge nicht erfinden, die die Natur gemacht hat“…

Zum dritten Mal gehe ich den Weg von Bodenheim nach Oppenheim. Jedes Mal in anderer Besetzung: Letztes  Jahr im Frühjahr mit Hubert, Dagmar und Dieter – unsere letzte gemeinsame Wanderung mit Hubert. Dann im Spätsommer 2016 mit Annette – das war auch eine Erinnerungswanderung.  Jetzt mit Marlis. Und dreimal habe ich mich an denselben Stellen verfranst: Vor Nackenheim und in Nierstein. Das liegt nicht an mir, sondern an der unachtsamen und/oder fehlenden Markierung. Und daran, dass der Weg ordentlich nur von Oppenheim nach Bodenheim markiert ist. Niemand kommt wohl auf die Idee, dass jemand auch andersrum gehen könnte. Meine Bitte an die Verantwortlichen: Überarbeitet die Markierungen auf der gesamten Teilstrecke!

Wir starten nach einem guten Frühstücķ. Bald lassen wir den alten Ortskern von Bodenheim hinter uns, laufen durch halbfertige Neubaugebiete  und sind dann mitten in der rheinhessischen Reben-und Rübenlandschaft, die sich bis zum Horizont zieht.  Im Wingert werden die  Reben  geschnitten. Da waren wir in Gonsenheim früher dran,  nicht wahr, Konrad und Klaus?

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Am frühen Samstag morgen trennen sich die Wege von Marlis und mir. Ich gehe Richtung Guntersblum, Marlis fährt mit dem Zug zurück nach Berlin.

Vorher frühstücken wir aber nochmal ausgiebig und wirklich vorzüglich im Hotel Merian.

Es war schön mit dir, liebe Marlis. Es hat Freude gemacht. Und ich kann jetzt auch WhatsApp.

Über die Krämerstrasse komme ich schnell auf meinen Weg. Ein letzer Blick zurück zur Katharinenkirche, dann liegen die Weinterassen vor mir. Sie sind  hier besonders gut sichtbar. In unterschiedlichen Höhen gibt es parallele Wege. Einmal steige ich auf dem Hang eine ‚Ebene‘ höher: So habe ich noch eine bessere Aussicht.

Die Rheinebene wird immer weiter, das eigentliche  Flussbett ist fast außer Sichtweite. In der Ferne der Odenwald. Ich bin ganz allein unterwegs. Kein Mensch begegnet mir. Nur ein Feldhase schlägt sofort Haken, als ich näher komme

Die Brombeeren sind hier reif, die Mirabellen auch,  es gibt Nussbäume ohne Zahl,  Kirsch- und Mandelbäume.

Dann irritiert mich ein funkelnagelneues Wegzeichen, das erst kürzlich angebracht worden sein kann : Lutherweg . Ein neuer Pilgerweg! Später  erfahre ich, dass der Weg die Reise des Reformators von der Fähre in Nierstein bis nach Worms abbildet. Na, dann!

Bald sehe ich Ludwigshöhe unter mir. Nicht das an der Haardt, das ist noch weit entfernt. Aber Guntersblum ist bereits nah – und dabei ist es erst Vormittag!

Bald liegt eine meterhohe Löss-Abbruchkante vor mir und eine Streuobstwiese an der Sasselbach mit Speierlingsbäumen. Wie ich auf den Infotafeln lese, ist die Baumart sehr selten, hat sehr hartes Holz und wird zum Kelterbau verwendet. Tja, lesen bildet!

Eine gemauerte Quelle lädt zu Rast ein.

Der Vögelsgärtenbrunnen hiess früher mal Victorsquelle nach einem Heiligen und wurde dann im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte zuerst zur Vichel- und später zur Fechel-Quelle  (rhoihessisch für Vögel ). Zur Vogelsquelle nach Vogelbach ist es jetzt nur noch einen „Katzensprung“von 13 Tagen!

Durch einen wunderschönen Hohlweg, wie er typisch für Rheinhessen ist, laufe ich auf Guntersblum zu. Und staune dort über eine wunderliche Kirche mit orientalischem Flair. Nein keine Moschee. Die Architektur der Sarazenenturm- oder Heidenturmkirchen mit zwei Türmen, streng geometrisch und mit achteckigen (!) Aufbauten haben Kreuzritter um die erste Jahrtausendwende nach Rheinhessen gebracht. Einer der Türme ist noch von 1100,  der andere wurde im 30jährigen Krieg zerstört und später rekonstruiert.

Es gibt noch 3 weitere solcher Kirchen in der Gegend.

Ich schlendere durch Guntersblum. Samstagnachmittag in Rheinhessen. Wochenende. Ab und zu werkelt jemand am Haus oder wäscht das Auto. Ansonsten Ruhe.

Am Kellerwegfest im August stapeln sich hier die Menschen. Jetzt kann man  an den wunderbaren alten Höfen, den Fachwerkhäusern und grossherrschaftlichen Anwesen in Ruhe vorbei gehen. Der Ort hat etwas Südländisches mit dem hellen Bruchsteinmauerwerk, dem Oleander, den blühenden Schlingpflanzen. Dazu trägt auch bei,  dass nicht alles auf Schickimicki getrimmt ist. Man spürt die Zeit und die Geschichte des Ortes…

Ich wohne und esse im Landhotel Weinhof. Ein Paar, das die Welt gesehen hat, baut sich in alten Gemäuern eine neue Existenz auf. Ich esse traumhaftes Lamm aus der Hüfte mit Ratatouille und Polentaplätzchen. Dazu einen Guntersblumer Spätburgunder.

Aber zu den Übernachtungs- und Restaurantbesuchen auf meiner Wanderung gibt es später Extra was zu lesen. Dann nämlich, wenn irgendwo in Rheinhessen das WLAN funktioniert und ich mein Tablet nutzen kann…

Schlappe 10 Kilometer bin ich heute gelaufen. Morgen wirds anstrengend!

 

 

Sonntagsspaziergang nach Osthofen

Sonntagabend: Ich sitze im mediterranen Vorgarten des Weinguts Spiess in Osthofen (Gault-Millau, Weinguide 2017) und trinke zum Abschluss dieses mit Eindrücken vollgepackten Tages einen Rieslingsekt als Aperitif. Das Weingut betreibt hier auch ein Restaurant („Vis a Vis“), und ich ahne, dass das Essen ebenso vorzüglich ist wie der Sekt.
Guntersblum bin ich heute morgen nur mit einer Tasse Kaffee und einem Wurstbrot (von gestern) zum Frühstück gestartet. Frühstück gab es erst ab 8 Uhr, aber freundlicherweise wurde ich mit Kaffee und Rosinenbrötchen versorgt. Ich wollte einfach früh los, weil ich nicht wusste, wie ich den Weg schaffe.
Der Ort ist am Sonntagmorgen ausgestorben. Nur das Klick-Klack meiner Stöcke auf dem Gehsteig stört die Sonntagsruhe. Eine Frau zieht am Automaten Zigaretten, ein Mann ist auf dem Weg zu seinem Auto. Danach begegne ich bis Mettenheim keiner Menschenseele.

Schnell bin ich wieder auf der Höhe meines Wanderweges. Der ändert jetzt seinen Charakter. Ich gehe durch immer mehr Hohlwege, die das Wasser im Löß „gebaut“ hat.

Manchmal sind die Lößwände 10 Meter hoch. Lößbienen durchlöchern die Wände. Manchmal ist die Enge in den hohlen Gassen direkt bedrückend. Dschungel-Feeling. Es gibt keinen Notausgang.
Aber alles löst sich oben wieder in Wohlgefallen auf, wenn die Aussicht auf die weite Weinebene wieder in den Blick kommt.
Der Weiler Hangen-Wahlheim oberhalb von Guntersblum hat seine besten Tage hinter sich. Der Dalberger Hof ist eine Bruchbude. Überhaupt hatten hier die Leiningers, die Dalbergers und wie die Adelsgeschlechter mit ihren prachtvollen Residenzen in Mainz alle hießen, hier ihre Pfründe. Und natürlich Lorsch. Das Kloster war DIE Macht, auch in Oppenheim. Der Wein, der seit dem 8. Jahrhundert hier kultiviert wird, war ausschlaggebend. Auch in Hangen-Wahlheim. Kirchenmacht.
Dabei „hat das letzte Hemd keine Taschen“, wie mir ein alter Rheinhesse wenig später so nebenbei mit auf den Weg gibt. Also wandere ich – nur mit 7 Kilogramm beschwert – weiter.
Übrigens noch ein Nachtrag zur „Völkermühle“: Hangen-Wahlheim hieß ursprünglich Walaheimberge. Man vermutet, dass (ahd.) Walah als „Fremder, besonders Romane oder Kelte“ aufzufassen ist. Hatten sich dort Menschen aus der Völkerwanderung angesiedelt? Immerhin gibt es in Rheinhessen auch ein FRIESENheim…..
Der Odenwald ist heute ganz nah, die Konturen der Berge wie ein Scherenschnitt, obwohl der Himmel verhängen ist. Es stört eigentlich nur Biblis die Harmonie, aber wenigstens ist es abgeschaltet.
Gestern schon ist die Ebene unter mir weiter geworden. Aber jetzt komme ich immer mehr an den Oberrheingrabenbruch. Bei Alsfeld (hier steht eine zweite Heidenturmkirche) treffen Rheingraben und Mainzer Becken aufeinander – und von hier an geht mein Weg auch immer mehr in die Ebene. Gegenüber der Kühkopf und Eich, unsere „Wasserversorgungsstation“.
Die Terrassen werden flacher, der Weinanbau breitet sich in der weiten, flachen Ebene aus und rechts von mir kommt das rheinhessische Hügelland in den Blick. Windanlagen inklusive. Um so deutlicher, als ich nach Mettenheim „landeinwärts“ abbiegen, um nach Bechtheim zu kommen, ein Weindorf in einer kleinen Talmulde, vorzüglichen Weinen und einem romanischen Klei nod: Die St.  Lambertus Basilika.

Leider ist sie außen ganz eingerüstet. Aber innen ist die Renovierung abgeschlossen. Es ist 12 Uhr mittags, und ich verbringe viel Zeit hier. Auch um dann später den rechten Weg wieder zu finden. Würden die Anrainergemeinden des Rheinterrassenweges ihre Markierungen doch genauso liebevoll gestalten wie ihre Infotafeln (es gibt sogar einen sehr anschaulichen Wein-Aroma-Weg)! Oder würden Sie nicht dauernd neue Pilgerwege kreieren (Ich gehe jetzt nämlich auf dem Terrassenweg, dem Lutherweg UND dem rheinhessischen Jakobsweg!!!), dafür aber wenigstens einen ordentlich markieren. Aber dank Internet und Bauchgefühl finde ich mich wieder auf den Weg nach Osthofen. Wein, Wein, Rüben – das ist Rheinland-Pfalz.
Mittlerweile ist es schwülwarm geworden und ich kämpfe mit mir, ob ich noch zur Gedenkstätte des KZ  Osthofen, etwas außerhalb des Ortskerns, gehen soll. Aber warum bin ich sonst so früh aufgestanden?!
Darüber und über drei dazu passende Unterhaltungen im nächsten Blog.
Übrigens: Das Essen im Weingut Spiess war tatsächlich vorzüglich: Fenchel-Orangensüppchen mit Jakobsmuschel, saftiges Kalbskottelet mit Gemüsespaghetti, dazu einen Osthofener Goldberg Riesling. Danach ging kein Dessert mehr. Nur noch Espresso mit köstlichen Schokoladenküchlein. Ich weiß, warum ich keine Pilgerwanderung mache!

Vom Leiden, vom Vergessen und vom Erinnern

Erste Begegnung
Kurz vor Osthofen kommt mir ein älterer Herr mit Hund und Walking-Stöcken entgegen. Die Größenverhältnisse zwischen Mann und Hund irritieren: Der Hund, 8 Monate, Mini-Terrier, der auch nicht viel größer werden wird, wie ich erfahre; der Mann, sehr wohlbeleibt, rot im Gesicht von der Hitze und wahrscheinlich auch vom guten Rheinhessenwein.
Ich erkundige mich nach der Entfernung zur Gedenkstätte des KZ Osthofen. Das sei einfach: Bis zum Turm und dann links immer den ehemaligen Bahnschranken entlang, dann rechts bis zur „Fundgrube“, über die Bahnschranken, und schon sei ich da.
Er selbst sei ja noch nie dagewesen. Ob er denn aus Osthofen sei, frage ich. „Ei jo, schun mei Vadder is hier gebürtisch“. Der habe in der Möbelfabrik gearbeitet und auch „e Planzacker“ dort gehabt. „Ich war jo domols noch e Kind. Ich bin jetzt weit iwwer die 70. Wenn do was gewess wär, der hätt doch was vezehlt.“
Er wisse ja nicht, ob das alles stimmt, was man erzähle, er könne sich das gar nicht vorstellen.
Und dann erzählt er von seinem Alltag: Dass er „aa alleens“ sei, dass er vier große Söhne habe, eine gute Rente, früher mit Kindern und Frau erst nach Italien gefahren sei, dann nach Kroatien, aber noch nie in einem Hotel übernachtet habe oder mit dem Flugzeug geflogen sei. Alles mit dem Campingbus. Heute sei er damit allein unterwegs. Aber nur in Deutschland.
Er ist ein sympathischer alter Herr, der sich selbst versorgt, gute Hausmannskost liebt, gern erzählt und der dankbar für jeden neuen Tag ist, den er noch erleben kann. Er hat, was er zum Leben braucht, denn „ das letzte Hemd hat keine Taschen“. Was in der Fabrik passiert ist, das will er nicht wissen, denke ich.
Zweite Begegnung
An der Bahnschranke steht ein älterer Herr, schmal, außergewöhnliche gerade Haltung und wartet neben mir, dass der Zug durchfährt und die Schranke sich öffnet. „Ach, da vorne ist ja die Gedenkstätte“, sage ich mehr zu mir selbst. Der alte Herr dreht sich zu mir um und bestätigt das. „Da ist viel Schlimmes passiert“, sagt er, „viel Leid“.
Ich frage ihn, woher er komme (er spricht Hochdeutsch mit einem harten Akzent). Er stammt aus der Ukraine, lebt aber schon, sehr, sehr lange hier. Sein Vater ist damals 1937 von den Russen verschleppt worden („Stalin!!“). Er hat nie mehr etwas von ihm gehört. Jetzt ist er über 80. Er hat 4 Söhne und eine Tochter. Alle sind verheiratet. Er ist froh, dass seine Familie nach der Vertreibung nach Deutschland gekommen ist. Das war Glück. Hier ist Freiheit und Demokratie und Wohlstand.
Nur der Vater… damals, als der Vater verschleppt wurde, sei er vielleicht 10 Jahre gewesen. Der Vater sei jetzt tot, aber er, der Sohn, habe vier Söhne und eine Tochter…..
Der Zug verfährt vorbei. Die Schranke öffnet sich. Wir verabschieden uns. Ein zufriedener, dankbarer Mann. Ein wenig vergesslich. Mit geradem Rücken – obwohl in eine Last drückt. Was in Osthofen passiert ist, weiß er. „VIEL LEID.“

Osthofen, das Konzentrationslager (verantwortlich: der promovierte Jurist Beck) in einer ehemaligen, leer stehende Papierfabrik 1933 errichtet, nach Schließung des Lagers wegen der Umorganisation des KZ-Systems in Deutschland 1934 Möbelfabrik. Zynisch: Die Papierfabrik gehörte einem jüdischen Osthofener Fabrikanten…
Osthofen war 1933 das einzige staatliche Konzentrationslager für den gesamten „Volksstaat“ Hessen (Rheinhessen, Starkenburg, Oberhessen) mit Regierungssitz in Darmstadt. Die Lage an der Bahnstrecke, die Nähe zum „roten“ Worms und die Tatsache, dass der 5000-Seelen-Ort eine NSDAP-Hochburg gewesen war, mögen zu der Entscheidung für diesen Standort geführt haben.
Die Mehrheit der Häftlinge im Lager war kommunistisch, inhaftiert wurden aber auch Menschen anderer Linksparteien und 114 Juden, die zunächst wegen „politischer Vergehen“ verhaftet worden waren.
Heute ist Osthofen eine eindrucksvolle Gedenkstätte. Eintritt kostenfrei. In einem Teil der ehemaligen Fabrikhallen ist das multimediale Besucherzentrum eingerichtet. Die Verbrechen, die in Osthofen passierten, werden an Einzelschicksalen fassbar. Demütigungen , Misshandlungen, Essensentzug, Eisduschen, Erniedrigung.
Wie in einer Nachrichtensendung werden in Videoeinspielungen Presseberichte aus der Zeit per Video übertragen. Soll noch einer sagen, die Bevölkerung habe von allem nichts gewusst.
Die zweite Halle war der Schlaf- und Aufenthaltsbereich, die heute auch zur Besichtigung freigegeben ist. Die Häftlinge – darunter nachweislich 7 Frauen – schliefen anfangs auf nacktem, nur mit einer dünnen Strohschütte bedecktem Betonboden.

Ehemaliges Schlaflager

Anna Seghers, mit deren Romanfigur Georg Heisler und seiner Nacht im Mainzer Dom ich diese Wanderung begonnenen habe, flüchtet aus dem KZ Westhofen über Oppenheim nach Mainz. Anna Seghers hat sich da einfach im Namen geirrt. 7 Holzkreuze stehen im Roman auf dem Appellplatz. Für die sieben Flüchtlinge, die wieder gefasst werden sollen. Ein Kreuz bleibt leer.
Nachsatz: In Osthofen wurden keine Gefangene ermordet.

Kunst in der Gedenkstätte

 

Die „Zangen-Etappe“ entlang der Pfrimm

Was hatte ich für einen Bammel vor diesem Weg von Worms nach Bockenheim!  Der Rheinterassenweg war in Worms zu Ende. Jetzt musste ich eine „Spange“ bis zum Pfälzer Weinsteig fnden. Während die beiden Fernwanderwege touristisch gut vermarktet und deshalb durchgängig – wenn auch nicht immer sinnvoll – gekennzeichnet sind, ist der Weg von Worms nach Bockenheim eine eigene Zusammenstellung von Etappen zweier Wanderwege. Lange hatte ich getüffelt, um eine einigermaßen schöne Tour durch das Verkehrswegenetz von Autobahnen, Bundes- und Landesstrassen zu suchen. Gefunden habe ich die erste Etappe der Klosterroute (Jakobsweg, früher Teil des Nibelungenweges) raus aus Worms und dann immer an der Pfrimm lang bis Wachenheim. Von dort aus gibt es einen großen Zellertalrundweg (Radweg), der über Bockenheim – dort beginnt die deutsche Weinstraße – ,führt. Das Problem war, den Anschluss zwischen beiden Wegen und natürlich erst mal aus Worms rauszufinden. 20 Kilometer insgesamt , aber ohne wesentliche Steigungen.
Nachts im Doppelstockbett habe ich im Halbschlaf memoriert: Raus aus der Jugendherberge, Südportal Dom, Lutherring bis kurz vors Denkmal, Kriemhildstraße, über die Bahngleise in die Steubenstraße (verkehrsreich!), und dann immer geradeaus bis zur Pfrimm. Es hat geklappt. Um 7:30 Uhr bin ich gestartet (mit Lunchpaket aus der Jugendherberge) und bald schon bin ich aus dem Verkehr raus und biege links ab in einen ungeteerten Fahrradweg an der Pfrimm. Der Verkehrslärm wird leiser und verstummt ganz, als ich an einen Park komme. Ich begegne nur ein paar älteren „Walkern“. Ein Paar spricht mich an, und ist – wie alle – baff erstaunt über mein Unterfangen. Sie wollen ein Stück mitgehen, der Mann am liebsten bis Pfeddersheim, was die Frau dann aber mit dem Hinweis auf Tagesgeschäfte, die zu erledigen sind, verhindert Sie erzählen mir allerdings etwas über die Geschichte des Parks, der von einem in Amerika zu Geld gekommenen hiesigen Geschäftsmann den Einwohnern als englische Parkanlage gestiftet worden war. Dafür trägt der Park seinen Namen, und seine Urne steht in einem Mausoleum im Park. Schön.
Witzig ist „das Ochsenklavier“, das mir meine nette Begleitung zeigt: Eine Reihe von Steinen an einer Furt, die tatsächlich wie die Tasten eines Klaviers aussehen und die früher den Ochsen sicheren Halt beim Überqueren der Pfrimm gegeben haben sollen.


Dank der interaktiven Karte meines Handys, den vereinzelt auftauchenden Muschelzeichen und einer sehr guten Beschreibung im Wander- und Pilgerführer Klosterroute komme ich gut voran. Kein Wunder, es geht immer dem Wasser nach.
Die Vögel zwitschern, die Laubbäume spenden Schatten, die Pfrimm gurgelt – was will das Wanderherz mehr: „Wem Gott will Rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt, dem will er seine Wunder weisen , in Berg und Strom und Wald und Feld“. Tatsächlich ist es eine Gunst, einfach mal fast 3 Wochen zu Fuß unterwegs sein zu können, und die Krönung wäre ein Kaffee in Pfeddersheim, das ich schnell erreiche. Pustekuchen. Der Ort ist um 9:30 Uhr ausgestorben, und das einzige Eiskaffee am Ort öffnet erst um 12:00 Uhr.
Pfeddersheim ist besonders: Ein großes Neubaugebiet umschließt den kleinen Stadtkern. „Mütter vom Prenzlauerberg“ aus Pfeddersheim machen mit Walking.-Stöcken und Babys im Brusttuch Gruppengymnastik. Ein Walker – ich tippe pensionierter Oberstudienrat – , den ich schon zum zweiten Mal treffe, erklärt mir, dass Worms und Pfeddersheim 2 direkt nebeneinander liegende freie Residenzstädte waren. Einmalig in Deutschland. Heute ist Pfeddersheim Wormser Vorort, ein ordentlicher Vorort: Verbundsteinpflaster, sorgfältig geschnittene Hecken, die Höhe des Rasens stimmt exakt. Als wolle sich der ehemals so mächtige Ort gegenüber Worms irgendwie ein wenig Würde bewahren. Schade – das ist der falsche Weg.

Bürgertum in Pfeddersheim

Aber ein paar Wehrtürme aus der guten Alten Zeit stehen noch, die Synagoge ist erhalten, und ein paar wirklich anheimelnd kleine Häuschen. Also: Nicht alles ist falsch.
Es geht weiter entlang der Pfrimm im Schatten hoher Laubbäume am Bachrain. Rechts Rübenacker und abgeerntete Getreidefelder. Stahlblauer Himmel.

 Das erste, was ich von Monsheim sehe, ist das Klärwerk. Gut versteckt, aber mir entgeht es nicht. Nach einer alten Mühle mit einem imposanten Wasserturm ist der Ort nicht mehr weit. Wie ausgestorben in der Mittagszeit. Von weitem lese ich ein Schild – Kaffee und Kuchen -, doch beim Näherkommen entdecke ich leider ein zweites Schild: Betriebsferien. Wirklich alle Gaststätten in Monsheim machen Ferien. Aber: Glück muss der Mensch haben: Ganz oberhalb des Ortes, im liebevoll restaurierten Bahnhof gibt es das Eiscafe Noisette, mit wirklich leckerem Eis – wird doch tatsächlich aus Berlin geliefert. Und Kaffee gibt’s auch!


Passenderweise  finde ich hier auch meine Wegzeichen wieder. Zwischen einem hohen Bahndamm links und der Pfrimm rechts führt ein Vogellehrpfad. Man lässt das Totholz hier liegen, so dass sich ein kleiner rheinhessischer Urwald entwickeln konnte. Dann weitet sich die Landschaft wieder. Rechts Weinberge, links ein Biotop , Überschwemmungszone der Pfrimm.
Wachenheim: Siehe Pfeddersheim und Monsheim – ausgestorben!
Mein Problem: Hier muss irgendwo die Anschlussstelle zum Zellertalrundweg sein. Internetempfang habe ich keinen. In einer Autowerkstatt hilft mir ein junger Mann weiter, indem er mir die ungefähre Richtung zeigt. Wir schimpfen noch ein wenig gemeinsam über das langsame Internet hier auf dem Land und dann bin ich bald auf dem Radweg die letzten 3,5 Kilometer unterwegs durch die Weinberge nach Bockenheim. Es ist heiß, aber ich kann das gut vertragen.

Blick zurück kurz vor Bockenheim

Ich entdecke auch meine Pension, aber statt einer großen Rieslingschorle finde ich nur einen kleinen Zettel: „Liebe Frau Lampe, wir sind gegen 16:30 Uhr wieder da“. Tja, da heißt es 1 Stunde warten.
Aber dann gibt es eine ganz große, kühle Schorle. Und ich habe meine „Panik-Etappe“ eigentlich ganz gut bewältigt.

 

 

Verlaufen, Schuh kaputt – aber alles ist gut!

Heute habe ich mich auf der ersten Etappe des Pfälzer Weinsteigs richtig verlaufen. Und mein rechter Schuh löst sich auf. Wie gut, dass morgen mein Ruhetag ist!
Aber der Reihe nach.


Bockenheim – Neuleiningen, die erste Etappe des Pfälzer Weinsteigs. Das ist kein Problem, habe ich mir gedacht. Nur die Sonne – gemeldet waren 36 Grad – könnte die Sache anstrengend machen.
Also um 7: 00 Uhr sehr gut in der Pension Brunnet gefrühstückt und dann direkt hoch durch die Weinberge, wo ich oben auf meinen Weg treffen will. Klappt. Es ist schon warm, aber je höher ich komme, desto mehr frischt ein leichter Wind auf. Eine Heiligenkirche liegt am Weg, eine kleine Feldkapelle, dem Petrus geweiht, mit barockem Portal, die in die Ruinen der romanischen Vorgängerkirche gebaut ist. Die gemauerte „Gnadenquelle“ davor ist derzeit versiegt. Aber ein Plastikeimer davor sagt mir, dass das nicht immer so ist.
Ein Kreis von Kastanienbäumen umschließt das Rund, als wollte er etwas beschützen. Das Böse fern halten. Was das ist, sehe ich eine Kehre weiter und ca. 50 Meter höher: Der „Katzenstein“, ein großer Felsblock aus Muschelkalkstein – man vermutet ein heidnischer Opferstein unsrer Vorvorfahren. Da haben die christlichen Missionare den Petrus mal gegen den Donar ins Feld geschickt!


Weiter durch die Weinberge. Leider kann man die Aussicht auf die Rheinebene nicht fotografieren – es ist einfach zu hell. Aber den Blick hinab auf diese weite, weite flache Ebene kann eh‘ keine Tablet-Kamera festhalten.
Auf der anderen Seite meine ich den Donnersberg zu sehen, will aber für meine geographischen Kenntnisse nicht die Hand ins Feuer legen.


Die Weinterrassen hier unterscheiden sich sehr von denen in Rheinhessen: Sie sind sanfter, haben weichere Bewegungen. Wie weite grüne Sonnensegel.

Während ich so sinniere, bin ich immer weiter abwärts gelaufen und merke erst zu spät, dass ich einen Abzweig übersehen habe.
Ein Winzer, der mir auf seinem Traktor entgegen kommt, hilft weiter, denn ich will nicht den ganzen weiten Hang wieder hoch laufen. Also weiter runter, dann rechts an der Sporthalle vorbei bis zur Hauptstraße: „Über den Bersch, den du do siehscht, Mädche, do muscht niwwer. Beim nächste, do siehscht dann schun Neuleininge“, erklärt er in vorderpfälzischem Singsang. Aller dann!
Ich folge seinen Anweisungen, was in Ordnung war, folge den Anweisungen eines weiteren „Einheimischen“, der mich in die Irre führt, und lande dann im Pfalzhotel in Asselheim, wo ich mir einen Kaffee genehmige. Von hier sind es knappe 3 Kilometer nach Grünstadt. Dort komme ich dann wieder auf den Weinsteig.
In Grünstadt kaufe ich in der hübschen Fußgängerzone ein Schälchen Himbeeren und mache es mir im ehemaligen Schlosspark – oder was davon übrig ist – gemütlich. Ich komme mit einem älteren Herrn auf einer Parkbank ins Gespräch. Vor sich hat er seinen Rollator stehen. Er kennt alle Wege. Wir vertiefen uns in die Landkarte. Er bekommt leuchtende Augen. „Sie sind wohl früher viel gewandert?“ „Ja, sehr viel. Irgendwann geht es halt nicht mehr“. Pause. Und dann: „Wandern macht frei.“ Dabei schaut er nicht auf den Rollator, sondern irgendwohin in die Ferne.

Aller dann!
Der Weg hoch in die Weinberge ist schweißtreibend. Und als ich an einem großen Nussbaum ankomme, denke ich mir, dass das ein gutes Plätzchen für eine Rast sei. Ich muss ja nicht in der Mittagshitze laufen!
Da entdecke ich das Malheur: Vorne an der Spitze des linken Schuhs löst sich die Sohle. Mit so einem Schuh habe ich mir in den Alpen vor Jahren das Bein gebrochen.
Sehr konzentriert gehe ich die restlichen 2,5 Kilometer bis zu meinem Etappenziel, dem Winzerhof „Sonnenberg“, mitten im gleichnamigen Weinhang, mit einem fantastischen Blick auf die Burgruine Neuleiningen. Nur die unten im Tal verlaufende Autobahn stört mit ihrem Lärmteppich etwas die Idylle. Aber man kann nicht immer alles haben.
Fazit des Tages:
Punkt 1: Es gibt immer einen zweiten Weg.
Punkt 2: Die Freiheit beim Wandern besteht auch darin, sich mal nicht an die vorgegebenen Wegmarkierungen zu halten.
Punk 3: Wer sich verläuft kürzt manches Mal auch ab. Das war heute der Fall. Und bei 36 Grad war das nicht das Schlechteste.
Morgen habe ich Zeit, mich um den kaputten Schuh zu kümmern.

 

 

 

Mein Rucksack

Ruhetag.  Ein paar Sachen auswaschen. Mit dem Bus über die Dörfer durchs Leininger Land nach Grünstadt fahren. Schuh reparieren lassen. Doch noch eine Hose und eine Bluse (im Sonderangebot ) kaufen. Wiegt kaum was! Köstliches Himbeereis bei Venezia essen (seit 1957 in Grünstadt; selbstgemachtes Eis ohne Milchpulver!). Durch die mittelalterlichen Gässchen von Neuleiningen spazieren. Am frühen Abend einen Riesling Spätlese mit Blick auf diese schier endlose Ebene des Rheingrabens. Bis zur BASF und nach Philippsburg (AKW sind halt gute Anhaltspunkte, Philippsburgs qualmt noch). Die vergangenen Wandertage überdenken.
Es geht mir sehr gut. Keine Blessuren. Ein paar Mückenstiche. Kein Muskelkater, keine Kniebeschwerden, keine Rückenschmerzen, die Füße in Ordnung. Gebräunt ohne Sonnenbrand. Die Fettpolster schwinden. Die „Winke-Arme“ auch. Die Gedanken fliegen. Die Energie steigt.
Der Rucksack wird leichter, obwohl er doch mittlerweile mehr Gewicht hat (eine Broschüre der romanischen Basilika aus Bechtheim, ein kleines Buch über Osthofen, Hotelübernachtungsrechnungen samt Prospekten, Mückenspray, neue Kleider).
Sein Gewicht merke ich nur morgens für einen Moment, wenn ich ihn auf den Rücken hebe. Dann vergesse ich ihn – meistens. Als ob er ein Teil von mir wird. Und er bezwingt auch ein wenig meinen „Buckel“.
Vielleicht ist das auch mit der Trauer so. Sie nimmt nicht ab. Aber sie wird ein Teil von dir. Du gehst mit ihr deinen Weg. Schöne Wege. Auch mal nervig und anstrengend. Allein, aber nicht einsam.
Jemand hat mir nach Huberts Tod geschrieben, ich müsse jetzt lernen, auf 2 Beinen zu gehen. Nach 40 Jahren. Genau das mache ich im Moment. Ich denke für uns mit: Vor dem Verlassen des Hotelzimmers noch mal schauen, ob alles eingepackt ist. Nach jeder Rast den Blick zurück, damit nichts liegen bleibt. Der Griff an den Rucksack: Ist das Portemonnaie noch da? Nicht zu schnell gehen. Den Wein und das Essen genießen. Neugierig sein. Nachfragen. Zusammenhänge herstellen. Und doch: die Leichtigkeit des Seins.
Aber auch meinen Part von uns behalten: Das Wundern über diese prachtvolle Erde, ihre Farben und Formen: „Hubert, sag doch mal, ist das nicht schön?!“
Aber vielleicht wird der Rucksack ja auch nur deswegen leichter, weil bei mir ein paar Kilo Fett runter sind – physikalisch gesehen.
Jetzt noch ein paar Tempo-Taschentücher und morgen auf nach Bad Dürkheim. Ich freue mich auf Dagmar und Dieter. Und einen Tag später auf Jürgen und Annette.

 

 

Erinnerungsweg Nr. 2 oder „Japanisch ist Weltsprache“

Genau eine Woche ist es her,  dass ich mit jemandem zusammen – mit Marlis –  zu Abend gegessen habe. Zeit, das zu ändern. In Bad Dürkheim sitze ich mit Dagmar, Dieter und einem Freund von beiden auf der Terrasse der Fronmühle (empfehlenswert) und geniessen pfälzische Spezialitäten. Morgen wandern wir zu dritt die 3. Weinsteigetappe nach Deidesheim.

Im Moment steckt mir allerdings noch die Etappe von von heute in den Beinen. Der Pfälzer Weinsteig ist doch etwas anderes als der Rheinterrassenweg. Sanft auf- und abschwingende Wege, meist auf der Höhe entlang, sind hier nicht mehr angesagt. Hier geht es richtig bergauf- und bergab, gerne auch mal auf kleinen Pfaden in Spitzkehren abwärts, die von Bikern  so hergerichtet Worten sind, dass es für Wanderer ungemütlich wird.

Trotzdem wird ganz allmählich für mich die Natur heimeliger: Mischwald von Buchen, Birken,  Eichen, Kiefern, Fichten , Lärchen, Kastanien – die ganze Viefalt eben. Farne und Heidekraut, weiche Waldwege, kleine Talschluchten, Buntsandsteinfelsen: Ich bin in der Pfalz!

Jedenfalls am Rand, dort wo in Zeitmillionen die Erde „eingebrochen“ ist, wo an der Bruchstelle ein einmaliges Stück Natur entstanden ist: sonnendurchflutete Rebenhänge, die bis an den Waldrand gehen, der durchzogen ist von tief eingeschnittenen Tälern und bis in die Spitzen bewaldeten Erhebungen. Durch diese Landschaft führt der Pfälzer Weinsteig. Man steigt am frühen Morgen durch die Weinberge auf und wandert dann durch schattenspendenden Wald, nicht düster, sondern grün wie im Frühling, weil das Sonnenlicht auf den Blättern glitzert.

 

Genug der Schwärmerei.

Heut morgen bin ich im Rebenland aufgebrochen, ganz schön früh und ohne Frühstück, weil die Winzerwirtin so flexibel denn doch nicht war, um mir um 7:00 wenigstens einen Kaffee hinzustellen. Ich steige durch die Treppengässchen des noch schlafende Neuleiningen, ins Tal, dann wieder auf, bis ich an den Waldsaum komme (siehe oben).

Blick zurück nach Neuleiningen

Alles kommt mir sehr bekannt vor, weil ich diese Wege schon mit Hubert gegangen bin.

Battenberg mit seiner Burgruine ist nach einem relativ steilen Anstieg erreicht. Die „Blitzröhren“, ungezählte Löcher im Bundsandstein, irgendwie eine geologische Besonderheit, wegen der ich beim letzten Mal schon unter Lebensgefahr eine S-Kurve auf der Landstraße ohne Gehweg überquert habe, spare ich mir. Ich bin jetzt allein und muss auf mich aufpassen. Durch Battenberg durch, wo ich keinen Bäcker finde: „Hier gibt’s nur 3 Winzer!“  Das kann ja heiter werden! Langsam meldet sich der leere Magen. Aber der Weg dann auf den weichen Waldwegen, immer auf und ab am steilen Uferhang des Krumbachtals entlang, lenkt ab. Es ist absolut still. Im Bannwald – oder kurz davor – weitet sich der Blick und ich schaue auf einer Lichtung ins Tal.

Ein verwittertes Kreuz am Wegrand erzählt die tragische Geschichte eines Försters, der an dieser Stelle erschossen worden ist: Es gibt 3 Varianten, wieso und warum der „unbescholtene“ Mann um die Ecke gebracht worden sein soll. Kurz gefasst: Variation 1: Er hatte eine zu schöne Frau, auf die ein anderer sein Auge geworfen hatte. Variation 2: der Försterlehrling, der im Rollenspiel“ den finalen Schuss auf das Wildschwein üben sollte – wobei der Förster der Keiler war – hatte scharfe Munition im Gewehr. Variante 3: Schmuggler. Der Vorfall gehört zu den ungeklärten Mordfällen.


Beim Abzweig zum Ungeheuer-See diskutiere ich einige Minuten mit mir, ob ich die 800 Meter runter und wieder hoch laufe oder meine Energie spare (Mittlerweile habe ich mir doch eine kleine Blase eingehandelt). Ich entscheide mich für den Abstieg und werde nicht enttäuscht: Der See liegt eher wie ein zahmes Tier denn ein Ungeheuer in der Morgensonne. Enten schwimmen an gewaltigen Seerosenblättern vorbei, Libellen schwirren – und dann kommen die Japaner.
Zwei ältere Ehepaare. DIE Gelegenheit, etwas gegen meinen knurrenden Magen zu tun. Als ich mit Hubert hier an einem Wochenende war, war hier Remmidemmi. Und natürlich war die Hütte des Pfälzerwald-Vereins geöffnet, die jetzt an einem Wochentag geschlossen ist. Nur die Japaner können mir noch weiterhelfen. Sie bieten mir auch sofort geschnittene Pfirsichstückchen und Schokolade an. Was ich dankbar annehme. Mein Versuch englisch zu sprechen, wird von einem von ihnen, der hier lebt, unterbrochen: „Meine Freunde sind zu Besuch hier. Sie sprechen nur Japanisch. Ich übersetze.“ Ich denke an Julia: „Japanisch ist Weltsprache“.


Mit neuer Energie gehe ich den Hang bergauf wieder 800 m hoch. Komisch, vor ein paar Jahren, mit Hubert, war ich außer Puste. Jetzt geht es gut. Mit Rucksack. Klar, nach einer Woche Wandern!
Die Lindenmühle hat geöffnet. Gott sei Dank! Die sechs Kilometer bis Bad Dürkheim wären sonst eine Fastenwanderung geworden. Ich esse „Grumbeere mit Weißem Käs“, die Kartoffeln ungepellt geviertelt, das Messerchen daneben, zum Quark Zwiwelcher. Ein Genuss. Zum Bismarckturm hoch, der geschlossen ist ( wird vom Verein auch nur am Wochenende betrieben; hatte dort mit Hubert selbstgebackenen Kuchen gegessen, Nickerchen im Gras.
Dann geht es eigentlich nur noch – mit einigen kleinen Anstiegen – bergab. Vorbei am Teufelstein und an der Heidenmauer – ein keltischer Wall, den ich fast übersehen hätte, weil nirgendwo ein Hinweisschild war. Apropos: Der Weinsteig hat Note 1 mit Sternchen verdient, was die Markierungen betrifft. Immer wenn ich dachte, jetzt könnte mal wieder ein Zeichen kommen, tauchte eins auf. Mit Informationstafeln haben es die Pfälzer weniger. Kultur ist ja auch nicht alles. Hauptsache ankommen und „gut gess un getrunk“.


Kriemhilds Stuhl war schon bei der ersten Wanderung mit Hubert beeindruckend. Tatsächlich sieht der Steinbruch, aus dem bereits die Römer den bunten – hier hellen – Sandstein gebrochen haben, wie ein überdimensionierter Thron aus.
Es geht abwärts auf schmalen Pfaden und in engen Kehren. Der Weg zum Merkure-Hotel zieht sich. Aber dort – Luxus: Das Hotel hat einen direkten Zugang zum öffentlichen Schwimmbad, Solebecken inklusive. Das Bad tut dem Körper gut. Der Seele tut es gut, dass ich in der Fronmühle an den Salinen dann Dagmar und Dieter treffe.
Ich schlafe sehr gut. Vielleicht auch wegen der guten Luft aus den Salinen direkt gegenüber meinem Balkon.

 

Unterwegs mit Freunden

Selfie  auf dem Flaggenturm

Es gibt Tage, an denen man gut allein sein kann, und solche, an denen es schön ist, Freunde um sich herum zu habe. Jetzt – um den 40. Hochzeitstag herum – sind Tage, an denen das Alleinsein schwerer fällt. Es ist Zufall, dass heute Dagmar und Dieter mit mir wandern (von Bad Dürkheim nach Deidesheim) und morgen Annette und Jürgen (von Deidesheim über den Geissbockweg nach Lambrecht). „Aber es gibt ja keine Zufälle“, wie meine Freundin Beate zu sagen pflegt.

Morgens um 7:45 Uhr habe ich mich mit Dagmar und Dieter am Amtsgericht in Bad Dürkheim verabredet. Nur ein paar Jogger sind im Kurpark unterwegs, und über den Marktplatz bin ich schnell oben am vereinbarten Treffpunkt. Die Plätze und Orte tauchen alle in meiner Erinnerung wieder auf, weil ich auch diesen Weg schon mit Hubert gegangen bin. Es ist eigentümlich, wie wir Bilder speichern, vergessen, und wie sie bei bestimmten Reizen wieder ganz klar aus der Versenkung der Gehirnwindungen auftauchen. Meine Gehirnzellen sind auf dieser Wanderung sehr aktiv! Gestern noch hätte ich die Tour nicht genau beschreiben können, heute fällt mir genau ein, wo Hubert und ich uns verlaufen hatten, wo wir dann wie gegangen sind, wo wir wem begegnet sind und wo wir uns über was unterhalten haben.

Aber das ist Vergangenheit.

Wir laufen durch die Weinberge zum Flaggenturm und können uns nicht satt sehen an dem Rundumblick: Die Limburg (kürzlich abgebrannt), mein Weg gestern und vor allem der vor uns liegende Pfälzer Wald.

Nach dem Mundhardter Hof ( Siedlung von Wohlbetuchten, deren Häuser nicht immer architektonische Glanzlichter sind) steigen wir in den Wald ein durch schmale Pfade immer mal auf und ab, entlang von Bachläufen, queren das Poppental. Mal laufen wir auf Bucheneckerboden, mal auf getrockneten Kastanienblüten, mal auf Kiefernnadeln.  Und wir staunen über einen Ameisenhaufen, der in meiner Kindheit noch nichts Außergewöhnliches war. Heutzutage schon.

Über einen Campingplatz geht es hoch zur Wachtenburg mit herrlichem Weitblick in die Rheinebene.  Sie heißt  ja nicht umsonst „der Balkon der Pfalz“.  Und die Burgschänke ist nur zu empfehlen. Die Burgunderschinken sind riesig und saftig, den Kastanienhonig kann ich leider nicht mitnehmen. Auf und ab geht es weiter bis zu den „Heidenlöchern“, den Resten einer alten Fliehburg aus karolingischer Zeit. Man kann die Ausmaße  noch erahnen.

Nochmal den Blick bei der Michaelskapelle schweifen lassen – auch auf Deidesheim unter uns und den Wegeinstieg für morgen. Dann sind wir wieder in den Weinbergen und merken jetzt erst, wie die Sonne sticht.

 

Der älteste Bildstock der Pfalz bei Deidesheim mit der Heiligen Barbara und der Heiligen Katharina (links).

Kuchen essen im Ritter von Boehl nach einer wunderbaren, gar nicht anstrengenden Wanderung mit vielen kleinen Pausen an idyllischen Plätzen, Gesprächen über Gott und die Welt, Vergangenem und vielleicht Zukünftigem.

„Hier hättest du auch übernachten können. Hier ist es schön“, sagt Dagmar. Nach einem Blick auf mein Handy stelle ich fest: Das ist meine Übernachtung. Es war weiß  Gott keine Enttäuschung.

Abschied von Freunden. Bis bald in Mainz. Abends trinke ich auf Hubert und unseren 40. Hochzeitstag einen Blanc de noir.

 

Über den Geissbockweg mit „Silberlocke“ und Annette

Kurz nach 8:00 Uhr am Sonntag morgen kommen Jürgen und Annette in Deidesheim an. Gestern noch haben sie dem Sohn bis spät abends beim Umzug geholfen, heute sind sie fast noch in der Nacht zu mir aufgebrochen, um rechtzeitig in Deidesheim zu sein. Wir frühstücken zusammen, dann geht es los: Über den Geissbockweg nach Lambrecht.

Das ist ein historischer Weg, den die Menschen der Gegend schon im 15. Jahrhundert gegangen sind. Die Lambrechter hatten Weiderechte von den Deidesheimern erhalten, und zahlten immer am Pfingstdienstag ihre Pacht: einen „gut gehörnten und wohl bebeutelten“ Ziegenbock. Das jüngste Brautpaar musste das Tier zu Sonnenaufgang an der Waldgrenze bei Deidesheim abliefern. Klar, dass es von vielen Lambrechtern begleitet worden ist, und ebenso klar, dass die Deidesheimer auch im Pulk zur Übernahme kamen. Der Bock wurde dann versteigert, um die Stadtkasse aufzufüllen.

Wie man sich denken kann, gab es um den Bock schnell Streitigkeiten, weil es im Blickwinkel des jeweiligen Betrachters liegt, ob ein Ziegenbock „gut gehörnt und wohl gebeutelt“ ist. 1808 musste sogar Napoleon (die Pfalz war zu dieser Zeit französisch) als Schlichter dienen, weil die Deidesheimer so unzufrieden mit dem Aussehen der gelieferten Ware waren. (Steht alles sehr ausführlich auf Wikipedia). Das muss man sich mal vorstellen: Der grosse Feldherr erobert gerade Spanien und beurteilt gleichzeitig die Güte des Bocks in der Pfalz! Aber Napoleon war ja für sein Multitasking bekannt.

Aber zurück zum Wandern.

Per Zufall bin ich bei den Vorbereitungen auf diese Tour gestoßen. Sie geht zwar steil hoch bis zum Weissen Stich (472 Meter), dafür spart sie mir aber eine zusätzlich Etappe bis Neustadt.
Wir gehen den Weg umgekehrt, also von Deidesheim nach Lambrecht. Vielleicht liegt es daran, dass wir eine Zeitlang brauchen, bis wir den „Geissbock“ gefunden haben. Wir müssen durch Deidesheim durch – dem Pfälzer Weinsteig folgend. Am Mühlenparkplatz zweigt dann der Weg rechts ab, was aber leicht zu übersehen ist, weil zum einen der Parkplatz kein richtiger Parkplatz ist und zum anderen sich dort noch keine Markierung findet. Jedenfalls keine für uns sichtbare. Deshalb ist man schnell oben am Pfalzblick mit einem weiteren Parkplatz. Für diejenigen, die diesen sehr empfehlenswerten alten Weg auch gehen wollen: An der grossen Hinweistafel zweigt er vom Weinsteig ab.
Wer wie wir trotzdem zum Pfalzblick geht, der hält sich dann auf dem breiten Forstweg, der halbrechts hoch geht. Nach einer Weile liegt ein paar Meter unterhalb die Waldschenke, an der der Geissbockweg vorbei führt. Es ist ratsam, zur Schenke hinabzugehen, weil erst hinter der Schenke das Wegzeichen, ein Geissbock, auftaucht. Die Wegmarkierung vorher (auch ein Tierbild) zeigen, einen anderen Weg, den Eselsweg. Ich z.B. hätte den Esel für den Bock genommen, wenn Annette mich nicht auf die wesentlichen Unterschiede aufmerksam gemacht hätte.

Mit dem Geissbock als Begleitung geht es dann einfach und sicher stetig bergauf, aber nicht zu anstrengend, auf weichen Waldpfaden und unter kühlem Blätterdach. Wir sind jetzt im Pfälzer Wald. Der Wein und die Reben liegen hinter uns. Es Wir wandern immer am Weinbach entlang (führt stinknormales Wasser!). Am höchsten Punkt, dem Weißen Stich, machen wir eine kleine Rast, um dann bis zum Forsthaus Silbertal abzusteigen. Das ist ein absoluter Tipp. Pfälzische Küche – alles was der Pfälzer Gaumen begehrt. Und gut! Allein die Dampfnudeln mit Weinsosse und Grumbeersupp gibt’s nur samstags. Aber die Suppe ohne die Dampfnudeln schmeckt auch.
Gut gestärkt machen wir uns auf das letzte Teilstück bergab. Dabei gehen wir den größten Teil durch das langgestreckte Lindental, das sich als Strassendorf den Hang nach Lambrecht hinunter zieht. Das hat auch mal bessere Zeiten gesehen.

Nach einem (Eis)kaffee am Nachmittag trennen sich leider unsere Wege.

Ich glaube, auch meine beiden Mitwanderer können den Weg empfehlen. Für Jürgen und mich war es ein Stück Heimatwanderung. Kindheitserinnerungen wurden dabei wach.

Annette und Jürgen nehmen den Zug nach Deidesheim, ich laufe noch die 2 Kilometer nach Frankeneck. Von dort im nächsten Blog mehr.

 

Tristesse in Frankeneck

Frankeneck, meine Logis für die Nacht, ist anders als die bisherigen adretten Weinorte, durch die ich gekommen bin. Früher bestimmt ein ganz lebendiges Örtchen kurz hinter Lambrecht, das erst vom Holzmachen, dann von der Papierindustrie lebte, ist es heute in einen Dämmerschlaf gefallen, den – so fürchte ich – kein Prinz wieder wegküssen kann. Putz blättert an vielen Häusern, Immobilien stehen zum Verkauf, auch bei Sonnenschein spürt man die Tristesse. Meine Unterkunft liegt direkt an der Straße ins Elmsteiner Tal. Trotz Fahrverbot für Motorräder in der engen, kurvenreichen Straße röhren sonntags die Maschinen. Es gibt zu viele Ausnahmegenehmigungen, sagt meine Wirtin.
Gegenüber dem Gasthof steht die Papierfabrik von Frankeneck. Wenige Menschen arbeiten hier noch. Im Schichtbetrieb. Das meiste ist automatisiert. Zigarettenpapier wird hergestellt. Tagsüber hört man den Fabrikationslärm. Rhythmisches Gezische. Dampf steigt ständig auf. Es muss heiß sein in der neuen Halle, die die Straße mit ihrer Hässlichkeit beherrscht und alles Schöne, was vielleicht mal war, arrogant niedergedrückt hat. Selbst der Wald, der gleich hinter der Fabrik beginnt, kann hier nichts mehr wett machen.

Blick von der Terrasse des Gasthofs auf den nicht ganz so hässlichen Teil der Fabrik. Die Halle schließt sich daran an.

Der Gasthof hatte wohl auch schon bessere Zeiten erlebt. 700 Quadratmeter Wohn- und Schankfläche verantwortet die Wirtin: Ein großer Gastraum, eine ebenso große überdachte Terrasse mit Blick direkt auf die Fabrik, Treppen und Stiegen, die in die Privat- und Gästezimmer führen. Alles ist reinlich und sauber. Die Küche blinkt. Überall Pflanzen, echte und künstliche. Letztere bevorzugt als Drapage um Spiegel und Lampen. Kleine und große Figürchen, wo man hinschaut. Landschaftsbilder. Über meinem Zimmer mit Möbeln aus den 50er Jahren hängt eine Dolomitenlandschaft. Wie bei Oma. Bunte Teppiche. Kachelöfen. Alles mit wenig Sonnenlicht.
Die Wirtin ist einem Theaterstück von Brecht und entsprungen. Klein, drahtig, um die 60, kluge, warme Augen, kehliges Lachen. Es klingt so, als habe sie die Welt und sich durchschaut. Sie bewirtschaftet das ganze Haus allein.
Ich bin der einzige Gast. Ein älteres Ehepaar war zum Essen hier.
Jetzt sitzen die Wirtin und ich auf der Terrasse und erzählen uns das Leben bei Schorle und Zigaretten. Zwei so unterschiedliche Biographien: Die eine ziemlich geradlinig, fast leicht – bis auf den einen Bruch; die andere mit so vielen Sackgassen, Rückschlägen, Verletzungen, gebrochenen Bildungswegen.
Und doch. Die Wirtin sagt: „Ich han viel gelernt im Lewe.“ Lacht ihr kehliges Lachen, das ein bisschen dreckig ist und trotzig. Mutter Courage eben.
Trotz aller Tristesse: Ich habe mich wohl gefühlt in dem Gasthaus in Frankeneck.

 

Im Elmsteiner Tal

Am Morgen um 7:00 Uhr regnet es. Das erste Mal tagsüber seit Beginn meiner Wanderung. Es prasselt auf das Dach der Terrasse im Frankenecker Gasthof. Nach dem Frühstück nieselt es nur noch, und ich entschließe mich aufzubrechen. Ich habe ja Huberts Regencape.
Die Wirtin zeichnet mir genau auf, wie ich von Frankeneck wieder auf die Route mit dem gelben Kreuz komme, die nach Johanniskreuz führt. Das ist gleichzeitig die Nordroute des Jakobsweges durch die Pfalz. Auf diesem Weg komme ich dann bis Vogelbach.


Es ist gar nicht so einfach, von den kleinen Örtchen am Beginn des Elmsteiner Tals hoch auf die Route zu kommen. Man muss die Straße queren, die Gleise vom „Kuckucksbähnel“ (fährt nur an Sonn- und Feiertagen, keine Gefahr), den Speyerbach und dann noch den Hang hoch kraxeln.
Aber es klappt auch im Nieselregen und oben im Wald hält das Laubdach die Nässe etwas ab. Auch schön, im Regen durch den Pfälzer Wald zu gehen. Solange es nicht schüttet. Das Grün ist noch fetter, die Farbe des Sandsteins noch intensiver. Und die Nebelschwaden an den bewaldeten Bergrücken haben auch ihren Reiz.


Es geht ziemlich bequem immer am Speyerbach und am Bähnel entlang, mal höher oben, mal fast direkt am Wasser. Das enge Elmsteiner Tal ist wildromantisch.
Ich komme rasch vorwärts. Das liegt auch daran, dass der Weg schnörkelloser ist als der Weinsteig.

Ritterburgruinen. Auf der einen Talseite Erlenstein, auf der anderen Spangenberg. Wegzoll muss ich nicht zahlen. Im Gegenteil: Der Himmel wird heller, die Sonne kommt, der Regen lässt nach. Beim der Forstwirtschaft Breitenstein (geschlossen) mache ich eine Pause.

Ein lebendiges Wildschwein habe ich noch nicht getroffen. Diese aus Bundsandstein am Breitenbacher Forsthaus  ist mir auch lieber.

Mir fällt auf, dass die Natur hier weiter zurück ist als in der Rheinebene: Die Brombeeren sind noch grün. Ja, das Klima ist rauer im Pfälzer Wald.
Vor Appenthal muss ich kurz die Straßenseite wechseln, um dann durch eine kleine Unterführung (Gleise) und eine Brücke (Bach) wieder zu rotieren. Das Tal macht hier einen Knick und wird noch enger als bisher.
Dann kommt schon Appenthal. Dahinter liegt Harzofen, wo das Naturfreundehaus ist. Wo sind nur die 15 Kilometer geblieben? Wie hat die Wirtin gesagt: “DEN Weesch no Elmstein find e Blinder. Den findscht a Du!“
Nur bin ich mittlerweile wieder weiter oben am Hang, und es stellt sich die Frage: Wie komme ich in den Ort? Auf der Landstraße geht es nicht, denn da ist eine S-Kurve ohne Randstreifen.

Das „Kuckucksbähnel“ fährt nur an Sonn- und Feiertagen.

Ich gehe also einfach auf den Gleisen und finde dann einen Pfad in den um die Mittagszeit ausgestorbenen Ort. Das kenne ich ja schon!
Zum Naturfreundehaus ist es nicht so weit wie ich dachte, so dass ich meine Etappe früh am Mittag beende. Mit einem starken Kaffee im Sonnenschein der Terrasse des Naturfreundehauses.

Und dann kommt das Gewitter. Und die Information, dass es morgen den ganzen Tag regnen soll. Na, dann gute Nacht! So dicht ist das Cape von Hubert nun auch wieder nicht.

 

Der Pfälzer Wald ist kein Wonnegau

Ich wusste ja, dass es im Pfälzer Wald schwierig wird. Das ist einfach kein Wonnegau. Und die Experten vom Pfälzer Wald Verein sind schon immer knauserig mit ihren Wegmarkierungen gewesen: „ Ei Maad, do muscht du dich halt e bissje orientiere!“


Aber alles ist gut. Ich bin zwar nicht in der Pension, in der ich reserviert habe, aus geplanten 10 Kilometern sind mindestens 16 geworden geworden, ich bin genau 1,2 Kilometer mit dem Taxi gefahren – kostenlos -, ich sitze im Warmen und Trockenen in einem Hotel in Johanniskreuz, und wenn die Chefin der Pension jetzt noch mit einer Zeckenzange kommt, die sie besorgen will, bin ich eigentlich recht zufrieden.
Dabei begann der Morgen recht unkompliziert. Dank Wetter.com wusste ich, dass ich gut daran täte, früh loszulaufen. Ich bin den Weg wieder zurück nach Appenthal – besser und schneller wäre es gewesen, vom Naturfreundehaus über den Berg nach Elmstein zu gehen. Aber was soll’s. Elmstein ist ein Ort wie in einem Märchen: Fachwerkhäuser, schmale Gässchen, eine Burgruine, der kanalisierte Speyerbach – und der einladend wirkende Gasthof zur Linde, in dem man auch übernachten kann. Es geht immer am Speyerbach lang. Mal ganz nah bei, so dass ich sogar ohne Hörgeräte das Murmeln des Bachs hören kann, mal 50 Meter oberhalb des Wassers. Die Gleise des Bähnles begleiten mich jetzt nicht mehr.
Ab und zu nieselt es kurz. Es sind aber eher die Nebelfetzen, die in den Bäumen hängen. Ich denke gerade, dass bei diesem feucht-warmen Wetter die Pilze wachsen müssten, als ich schon die ersten sehe.
Irritiert bin ich, als ich zu einer Art Schleuse komme. Wieso das?
Es ist eine Triftanlage aus jenen Zeiten, in denen das Holz auf dem Wasserweg transportiert worden ist. Jetzt verstehe ich auch, warum der Speyerbach die ganze Zeit „eingemauert“ ist. In den Triftanlagen wurde das Wasser zeitweise gestaut. Beim Öffnen ist eine Sturzwelle entstanden, auf der das Holz mitschwimmen konnte. Triftknechte mit Haken gaben dem Holz die richtige Schwimmrichtung. So haben die armen Waldpfälzern den reichen, aber holzarmen Weinbauern in Neustadt zu Brandholz verholfen.


Auf den schmalen Pfaden entlang des Speyerbachs, auf denen ich jetzt gehe, waren wahrscheinlich auch die Knechte unterwegs. Es erinnert mich an die Treidelpfade am Rhein.
Unmerklich steigt der Weg an. Es geht gegen Johanniskreuz. Vor Speyerbach wechsle ich über die Landstraße auf die andere Seite und freue mich, wie gut ich das schaffe.
Dann das verwitterte gelbe Kreuz mit – meiner Meinung nach – einem Pfeil in den Wald hinein. Das kann eigentlich noch nicht der Punkt sein, an dem mein Weg eine Schleife macht. 500 Meter rein, dann wieder zurück Auf der anderen Seite der Straße scheint kein Weg zu sein. Nur kniehohes Gras und Brennesseln. Nochmal den Forstweg hinein. Jetzt fängt es richtig an zu regnen. Ich klettere einen Hochsitz hoch, habe Schutz vorm Regen – und überlege.

Da blockiert mich doch einer!

Erstens: Mein nächster Kauf ist ein Wander-Navi. Zweitens: Ich werde die Straße hochgehen. Es ist wenig Verkehr und höchstens noch 2 Kilometer bis Schwarzbach, meinem Etappenziel kurz vor Johanniskreuz. Gesagt, getan.

100 Meter die Straße hinauf, sehe ich links von mir meinen richtigen Weg. Er war bei der Einmündung so zugewachsen, dass ich ihn nicht entdecken konnte. Bei der nächsten Möglichkeit wechsle ich auf den Wanderweg. Auf dem steht das Gras hoch. Anscheinend geht kein Mensch hier lang. Vorteil: Sehr idyllisch. Nachteil: Nasse Schuhe.
Dann endlich eine Richtungsanzeige: 1 Kilometer nach Schwarzbach halblinks, rechts nach Johanniskreuz. Ich nehme Schwarzbach, wandere oberhalb des Weilers entlang – viele Ferienhäuschen – bin aus dem Ort raus und finde keinen Abstieg. Also den Hang runter. Da sind die Zecken. Eine entdecke ich, bevor sie sich richtig an mich klammert. Die zweite sehe ich zu spät. Aber gut. Ich bin am Ziel. Alles weitere wird sich geben. Pustekuchen. Der Gasthof Waldesruh öffnet erst um 17 Uhr. Es ist jetzt noch keine 14 Uhr und es regnet. „HOTEL GEÖFFNET“ steht da. Aber kein Mensch ist da. Ich klopfe an sämtlichen Türen. Nichts.
Telefonnetz gibt’s hier nicht. Kein Mensch nirgends. Ich gehe hoch zur Straße nach Johanniskreuz und entscheide mich gerade, diesen einen Kilometer hochzulaufen, um mir dort etwas zu suchen, als ein Taxi vorbei fährt. Der junge Fahrer nimmt mich wie selbstverständlich mit und fährt mich bis zu einem Hotel. Da habe ich mit Hubert vor Jahren Kaffee getrunken.
Ein Messer gibt mir der Chef nicht, damit ich die Zecke rausholen kann. Seine Frau will in der Apotheke – wahrscheinlich Trippstadt – eine Zeckenzange holen. Derweil unterhalte ich mich mit einer Truppe Traktorfahrer aus dem Hunsrück, die zu einem Traktor-Fahrer-Treffen ins Elsass fährt.


Die Zeckenzange gab’s nicht, jetzt haben wir eine Pinzette genommen. Operation in der Gaststätte unter Beteiĺigung aller Gäste. Mit viel Gelächter. Jetzt geht es mir wieder gut.
Und morgen die längste Etappe der Tour bis zum Gelterswoog. Laut Wetter App wird es besser. Im Moment sieht es noch nicht danach aus. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.

 

Die „Allerscheenste“

Wollte ich aus all den sehr schönen Etappen, die ich auf dieser Wanderung gegangen bin – und es gibt keine, die nervig, öde oder langweilig war -, wollte ich also zwei auswählen, die die „Allerscheenste“ waren, so wären das die von Bodenheim nach Oppenheim am Rheinterrassenweg und die heute von Johanniskreuz zum Gelterswoog.
Während die eine hoch oben vom Roten Hang aus atemberaubende Blicke auf den Rhein freigibt und dabei durch die Wein-Kulturlandschaft führt, taucht die andere ganz tief in den Pfälzer Wald ein, in seine Schluchten, Täler, Bäche, Feuchtwiesen. Und in die Kulturgeschichte der Eisenverhüttung.
Johanniskreuz also der Startpunkt um 8:00 Uhr. Das Hotel dort übrigens war überteuert, und ich habe das mit Abstand schlechteste Essen der vergangenen 14 Tage gegessen. Schwamm drüber, dafür hat der Wirt mir die Zecke fachmännisch entfernt.
In Johanniskreuz habe ich als Kind zum ersten Mal auf Skiern gestanden – ist ja auch mit 473 Meter der höchste Punkt meiner Tour. Johanniskreuz ist ein Wegekreuz für Wanderer, Biker, Motorradfahrer, Autofahrer. Und dort haben Hubert und ich uns bei einer Wanderung vor ein paar Jahren so verirrt, dass wir in einem Tal ankamen, dass kilometerweit von unserem Auto entfernt war. Hubert hatte damals, während wir orientierungslos herumirrten, sehr launisch und bildhaft die Zeitungsgeschichte von dem Mann erzählt, der eine Woche lang im Pfälzer Wald unterwegs war, weil er nicht mehr rausfand. Seitdem habe ich, was den Pfälzer Wald betrifft, ein kleines „Trauma“.
Deswegen will ich mich heute sehr konzentrieren, denn bei vor mir liegenden 20 Kilometern kann ich es mir nicht leisten, weitere 10 mit „Sackgassen-Laufen“ zu verbringen.
Es wird nicht regnen. Das weiß ich von den Tauben (und von der Wetter App). Die Zuchttauben des Hotelbesitzers sind heute zu einem Probeflug nach Frankreich gestartet. Das wären sie nicht, wenn es regnen würde. Sagt die Ehefrau des Hoteliers.
Tatsächlich löst sich der Nebel bald auf, und der Weg durch den Pfälzer Wald Richtung Finsterbrunnental – immer sachte bergab – ist ein Genuss für alle Sinne. Der Geruch des Waldes, der samtweiche Waldboden, das Grün in allen Schattierungen, die Stille.


Die Markierungen sind sehr gut und sehr neu. Trotzdem muss man aufpassen. Wie schnell läuft man so dahin, in Gedanken versunken auf einem breiten Forstweg – und schon hat man das kleine “Pädche“ übersehen, das links den Hang runterführt. Wie im Leben manchmal.

Wenn auch unscharf: Links geht’s „Pädche“ ab.

Heute übersehe ich nichts. Der Pfad führt in Serpentinen hinunter zur Moosalb. Und hier beginnen die Spuren der Eisenverhüttung, die in der Region zurück bis in die Zeiten des 30jährigen Krieges reicht. Ein Stein markiert die „Uralte Schmelz“ (zerstört 1636), ein Holzkohle-Schmelzofen zur Eisengewinnung. Oberhammer heißt  ein Ort in der Nähe, ein Name, der auf das frühe Handwerk hinweist.


Schnell bin ich an der Karlstalschlucht. Caspar David Friedrich hätte sie gemalt, Eichendorff ein Gedicht geschrieben und Schumann ein Lied komponiert, hätten sie die Schlucht gekannt. Ich durchwandere sie, nehme mir viel Zeit und weiß, dass ich mit meiner Tablet-Kamera keine Chance habe, auch nur einen Bruchteil dieser wildromantischen Schlucht einzufangen, durch die die Moosalb fließt.
Ursprünglich hieß die Klamm „Wüstetal“. Freiherr Franz Carl Josef von Hacke, Erbauer des Trippstadter Schlosses, hat der Karlstalschlucht ihren Namen gegeben. In den nach englischem Vorbild gestalteten barocken Schlosspark ließ er die Schlucht mit einbeziehen.
1 Kilometer weit geht es über Treppchen und Brücken durch den Schluchtwald. Es gurgelt und murmelt, es sprudelt und strudelt. Es ist grün und feucht. Moose und Farne überwuchern die gewaltigen Sandsteinblöcke. Pfälzer Regenwald.

Am Ende der Schlucht weitet sich das Tal, und ich gehe über Wiesenbäche (der Weg ist gut befestigt und teilweise als kleiner Dammweg gebaut). Auch hier quellt es überall.


Vorbei an Mittelhammer mit der Klugschen Mühle, komme ich – wie kann’s auch anders sein – nach Unterhammer. Dort stand zu Zeiten des Freiherrn Anton von Hacke (der Vater) das von ihm gegründete Hammerwerk mit Herrenhaus (Hier kann man heute „Romantik-Übernachtungspakete“ buchen!)
Der alte Freiherr, kurpfälzischer Oberjägermeister, Herr von Trippstadt, dem durch Zukauf so gut wie alles in der Region gehörte, muss ein kreativer Kopf mit Geschäftssinn gewesen sein. Er gründete das Eisenhammerwerk in Unterhammer, sorgte für die nötige Infrastruktur, ließ Stauweiher anlegen, um die Wasserkraft nutzen zu können, ließ Meiler errichten, um die für die Eisenherstellung nötige Holzkohle vor Ort zu haben; ja, er sorgte auch mit einem Entwässerungssystem dafür, dass in den Bachwiesen („Buckelwiesen“) Heu für die vielen Pferde der Fuhrleute geerntet werden konnte. Er warb Siedler aus Tirol an und baute Häuser für sie. Also ein Tausendsassa, der außerdem mit seiner Frau noch 18 Kinder zeugte.
Später führten die „Pfälzer Eisenbarone“ das Werk weiter. Mit dem Beginn der Industrialisierung, mit der Dampflok, fielen die Blechpreise. Den Niedergang der Produktionsanlagen konnte auch König Ludwig I von Bayern mit seinem Besuch im Karlstal 1862 nicht aufhalten.
Das alles erfährt man auf Informationstafeln des Eisenhüttenweges, der hier den gleichen Verlauf wie der Jakobsweg hat.
Genug der Kulturgeschichte. Flugs bin ich wieder im Wald, wo ich im Naturfreundehaus Finsterbrunner Tal (sehr gemütlich) einen Kaffee trinken. Ab hier kenne ich alle Ortsnamen: Schopp, Krickenbach, Stelzenbach… Mein Großvater ist hier in den 60ern über die Dörfer gefahren, um Wäsche und Kleider zu verkaufen. In den Dörfern gab es nichts, und Autos hatten die wenigsten.
Um 13 Uhr bin ich am Gelterswoog. Im Seehotel. In FCK-Land. Rückzugsort vor wichtigen Heimspielen. Aber auch guter Treffpunkt für Absprachen von Funktionären. Wie heute wohl. Glaube ich zumindest zu beobachten.


Jedenfalls ein guter Ort. Und gutes Essen. Und ein schönes Zimmer mit Blick auf den See.
Das war heute eine Premium-Wanderung. Ohne Regen. Auf die Tauben ist Verlass. Man sollte sie nicht im Park vergiften gehen.

 

Am Ziel – trotz amerikanischer Blockade

Ungefähr um 18:30 Uhr bin ich am Donnerstag in Vogelbach angekommen. Einen Tag früher als geplant und nach etwa 34 Kilometern vom Gelterswoog her. Aus zwei mach eins. Ein wenig zu viel. Sicher. Aber nachdem ich mit dem Mittagsläuten schon in Landstuhl war, wäre es unsinnig gewesen, hier nochmal zu übernachten, 16 Kilometer vorm Ziel. Beinahe hätten mich die Amis aber noch kurz vor dem Ziel gestoppt.
Der Reihe nach.
Sehr idyllisch geht der Weg vom Gelterswoog durchs Walkmühltal an 5 aufsteigenden verwunschenen Woogen vorbei.

In die Stille platzen plötzlich Motorgeräusche auf der anderen Seite der Teiche. Dort verläuft anscheinend ein Forstweg. Ein Schreckmoment, und ich greife nach meinem Schweizer Messer, das immer in der Hosentasche steckt. Aber es ist wohl nur ein Autofahrer, der eine Abkürzung genommen hat. Zu viel Krimis gelesen.
Dann bin ich schon im Sickinger Land und im Landstuhler Forst. Am Banner Sportplatz treffe ich einen Walker, der mich noch von früher kennt. Gemeinsam gehen wir zum „Herrengärtchen“, einem Felsvorsprung, vom dem man weit ins Land sehen kann.


Hierher spazierten die feinen Herrschaften, die im Schlosshotel des damaligen Moorbades Landstuhl kurten. Die Hautevolee aus ganz Deutschland feierte hier Waldfeste.
Man erzählt sich auch, dass der Gutsbesitzer Heinrich Didier von hier aus mit dem Fernrohr seine Arbeiter bei der Arbeit im Bruch kontrollierte.
Und tatsächlich: Von hier aus sehe ich die ganze Ramsteiner Airbase!
Kein Wunder also, dass man nach den Anschlägen von New York Angst hatte, dass die Base von hier aus ausspioniert werden könnte.
Das sollte nicht die erste „Begegnung“ mit den Amis an diesem Tag sein. Landstuhl ist US-Enklave!


Über die Burg – Gruppen von Amerikanern, die Fotos schießen – gehe ich auf dem altbekannten „Pädche“ am Moorbad vorbei in die Stadt. Der Landstuhler Marktplatz ist schön hergerichtet, aber ansonsten prägen Döner-, Burger- und Pizzabuden, Billigläden und „Vintage furniture from Europe“-Läden (Trödel) das Bild der Hauptstraße. Spätestens jetzt entscheide ich mich, bis Vogelbach weiter zu gehen.
Hinter dem Bismarkturm komme ich zu weit nach unten und lande – Freudsche Fehlleistung – bei den Tennisplätzen, wo ich Tennisspielen gelernt habe. Ich esse erst Mal Spaghetti Bolognese bei Salvatore, bevor ich wieder steil hoch steige zur Housing Area. Die ganze Zeit begleiten mich Schiessgeräusche. Und dann stehe ich vor einem Schild, das mich eindringlich davor warnt, weiter zu gehen: Truppenübungsplatz. Das Geballere ist jetzt sehr nah. Aber mich halten die Amis nicht auf. Zwei Telefonate mit Jan, der mich militär- und laufstrategisch berät, und ich kann die „Out of Area- Zone“ umgehen. Von oben sehe ich dann das Gelände, das sich sehr weit dehnt.
Jetzt merke ich zum ersten Mal meine Füße. Der Weg wird lang bis zur Fritz-Claus-Hütte. Ich hatte die Tour mit maximal 20-Kilometer-Etappen schon vernünftig geplant. Alles andere ist einfach zu viel.

Ohne Worte

Aber jetzt kommt die Elendsklamm, und ich weiß, dass ich es geschafft habe.

Am Schluss gehe ich noch durch „unsern Wald“ und stehe dann vor dem Haus meiner Mutter. Sabine, Jan und ich trinken an diesem Abend 3 Flaschen Wein (Mama nur Wasser, wie immer).

Ein Blog folgt morgen noch zum Abschluss, danach verabschiede ich mich von dieser Seite.

Aller, dann! Adschee!

Von Mainz bis nach Vogelbach zu wandern – am Rhein entlang und durch den Pfälzer Wald -, das war die beste Idee, die ich haben konnte. Und Gott sei Dank hat mir Jan mit der Einladung zu seinem Gartenfest den Anlass geliefert.


Etwa 240 Kilometer war die Strecke lang (ich hatte keinen Kilometerzähler – gut so! -, und die Umwege rechne ich jetzt mal nicht mit). 15 Tage war ich unterwegs, davon ein Ruhetag. Also einen Tag kürzer als geplant. Ich fühle mich mit meinen noch 61 Jahren wohl in meiner Haut, wohl auch wegen der gestärkten Muskeln und einigen Pfunden weniger Fett.

Von Heimat zu Heimat
Ich bin von der einen Heimat in die andere gegangen. Das war mir vor 15 Tagen nicht klar: Von Rheinhessen, wo ich seit über 40 Jahren lebe, wo meine Freunde sind, in die „Hinnerpalz“, wo meine Familie lebt. Von den quirligen, offenen Rheinhessen, wo Anna Seghers und Carl Zuckmayer herkommen, wo immer noch ein Platz in der Weinstube für dich da ist, bis zu den Waldpfälzern, den Kartoffelbauern, die lieber Bier trinken, die länger brauchen, bis sie mit einem warm werden, die wortkarger sind, bodenständiger. Dorthin, wo die „Weltachs ingeschmeert und uffgepasst werd, dass nix passeert“, halt zur „Pälzer Weltgeschicht“. Aber beide haben sie das Herz auf dem rechten Fleck.
Es geht also: Man kann in 2 „Heimaten“ wurzeln. Und dass die einen „Du kimmst“ und die anderen „du kummscht“ sagen, ist kein unüberwindbares Hindernis.

„Doktor Wald“
Bei meinen Schwiegereltern im Harz hing – in der Küche oder im Bad, das erinnere ich nicht mehr genau – ein kleines gerahmtes Gedichtblatt: „Doktor Wald“, passend im Haushalt eines Arztes.
Geschrieben hat es der Förster Helmut Dagenbach.
Ich fand es immer ganz lieb-naiv. Jetzt kann ich die Reime nachvollziehen.
Es fängt an:
„Wenn ich an Kopfweh leide oder Neurosen,
mich unverstanden fühle oder alt,
und mich die holden Musen nicht liebkosen,
dann konsultiere ich den Doktor Wald.

Er ist mein Augenarzt und mein Psychiater,
mein Orthopäde und mein Internist,
er hilft mir sicher über jeden Kater,
ob er von Kummer oder Cognac ist.“

In der letzten Strophe heißt es dann:
„Er bringt uns immer wieder auf die Beine,
das Seelische ins Gleichgewicht,
verhindert Fettansatz und Gallensteine,
nur – Hausbesuche macht er leider nicht.“

Das stimmt sehr für meine Wanderung, nicht nur durch den Wald, sondern auch entlang der Weinterrassen am Rhein.

Vom Wandern
Wer recht wandert schaltet ab. Er lässt die Trump-Welt außen vor, das Auto-Kartell, Nordkorea, die beruflichen Aufgaben, Sorgen um die Zukunft.
Wer wandert, achtet auf das, was gerade im Moment ist: Die Baumwurzel auf dem Weg, den Wiesenthymian am Rand, den Baumpilz, den Mistkäfer, die Kuhle des Wildschweins, das Moos am Felsblock; er sieht die ungezählten Grünschattierungen des Blätterdachs, auf dem die Sonnenstrahlen tanzen, und das, was langsam am Horizont erscheint: eine Steigung, eine Wegmarkierung, eine Gabelung. Er spürt die Wärme auf der Haut und riecht die kühle Feuchte im Wald. Er hört, wenn ein Greifvogel sein Frühstück erwischt, hört das Gemurmel des Baches (auch ohne Hörgerät), und er hört vor allem die Stille.
Er trifft Menschen für kurze Begegnungen und sagt nach kurzer Zeit: Aller dann!


So war ich nie allein, auch dann nicht, wenn keine guten Freunde mich begleitet haben.
Der Tag gehört dem Wandern – und nur dem -, der Abend dem Schreiben. Beim Glas Wein den Tag Revue passieren lassen – das ist fast so, als ginge man den Weg ein zweites Mal. Das ist eine Freude.

Die Welt mal ver-rücken
Einmal hat mich ein älterer Mann gefragt: „Wo hascht dann dei Mann?“ Der ist doch dabei, habe ich gedacht.
Manchmal, wenn ich früher mal wieder eine „tolle Idee“ hatte, entspann sich meist folgender Dialog:
Hubert: Ich hab schon ein verrücktes Weib!
Ich: Besser verrückt als langweilig.
Hubert: Da hast du auch wieder recht!
Was wäre die Welt, wenn wir sie nicht ab und zu für kurze Zeit ein wenig „ver-rücken“ könnten?
Und damit:
Aller, dann! Adschee – un Hauptsach gut gess un getrunk!

 

 

 

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