Bis Walkenried hatte ich die Wanderung gut geplant. Aber da ich nicht wusste, ob und wie lange mein Knie hält, war ich unsicher, wie es es dann weitergehen kann. Dass ein kleines Wunder geschehen würde, und ich 19 km mit – wenn auch leichtem – Rucksack ohne größere Probleme bewältigen könnte, war nicht vorhersehbar. So mussten wir jetzt abends im gastfreundlichen Hotel Klosterhof bei einem großen Radler erst einmal planen und organisieren.
Wir entschieden, die Tour auf dem Grünen Band wie im Reiseführer vorgesehen weiter zugehen. 23 Kilometer hoch in den Harz bis nach Tanne, wo wir auf die Schnelle ein Apartment in einer Ferienanlage bekommen hatten. Katharina nahm auch noch etwas Gepäck von mir, so dass wir am Morgen guten Mutes bei wunderbarem Wanderwetter losgehen.
Die ersten Kilometer sind auch noch einfach. Geradeaus oder sanft bergan durch Wiesen und Felder, immer noch im Gipskarst. Vorbei an einer Gipshalde und dann wieder auf dem Kolonnenweg parallell zum Flüsschen Zorge. Aber schon hier dämmert es mir, dass uns der Weg etwas vorgaukelt, uns in Sicherheit wiegt, bevor er steil zuschlägt. Denn vor uns erhebt sich – noch in der Ferne – der dunkle Harz. Nach dem ‚Spitzen Winkel“ scheint es dann wirklich loszugehen, denn wir müssen tatsächlich im spitzen Winkel auf einen kleinen Waldpfad einbiegen, der parallel zum ehemaligen Plattenweg führt. Übrigens: Mein Wandernavi ist kaum von Nöten, denn nirgendwo auf den Touren der vergangenen Jahre war der Weg – sei es als Grünes Band, sei es als Grenzwanderweg – besser ausgewiesen als hier im Harz.
Es geht durch den Forst bergan, immer noch Mischwald, moderat und auf weichem Waldboden.
Wir wechseln immer wieder mit ein paar Schritten von einem Bundesland ins andere, weil wir genau auf der ehemaligen Demarkationslinie unterwegs sind. Und dann kommen wir zu einem ganz kuriosen Ort mitten im Wald, der Zweiländereiche. Hier versammelt sich ein ganzes Konvolut von Grenzsteinen: ein Forststein, ein Stein, der ab 1816 hier die Grenze zwischen dem Königreich Preußen und dem Herzogtum Braunschweig markiert hatte, ein noch älterer Stein, der ab 1668 den Stift Walkenried begrenzte und den Grenzstein der DDR ab 1968. Dazwischen noch die schwarz-rot-gelben Grenzpfähle. Deutsche Geschicht eben.
Immer noch bin ich frohen Mutes ob des relativ moderaten Anstiegs, obwohl mich seit gestern Kreuzschmerzen plagen, die jetzt immer stärker.rker werden.
Und dann geht es sehr steil hoch auf einem schmalen Waldpfad mit mächtigen Steinen. Es ist schwül warm. Die beiden Mädels neben mir mit den schweren Rucksäcken schnaufen jetzt auch. Dann von oben ein Juchzen. Wir haben es wohl geschafft und sind an der Wendeleiche angekommen. Das war Anfang des 20. Jahrhunderts ein mächtiger Baum, dessen Krone man über eine Wendeltreppe erklimmen konnte. Von dort hatte man eine prächtige Aussicht auf den Brocken. Nach der Genzziehung wurde die „Aussichtsplattform“ niedergelegt. Heute sehen wir nur noch ein Gerippe mit rostigen Eisenstäben.
Ein paar Schritte weiter hat man heute auch vom Boden einen wunderbaren Blick auf den Brocken. Leider auch auf die Zerstörungen durch den Klimawandel. Kahle Hänge und Tausende von Fichtengerippen.
Während wir bisher durch Mischwald gewandert sind, haben wir jetzt den Nadelwald erreicht. Oder was davon übrig ist. Der Weg führt an Harzer Höhenwiesen vorbei, mal auf, mal ab. Leider fehlt mir wegen der Schmerzen im Rücken, die trotz Tabletten nicht besser werden, der Sinn für die Naturschönheiten. Auch nicht für die skurrilen Namen der Wegmarken wie „schwangere Jungfrau“ oder „Schwiegermutter“.
Und dann erreichen wir bekanntes Terrain: Wir sind in der Nähe von Benneckenstein, der Heimat meiner verstorbenen Schwiegereltern und meines verstorbenen Mannes. Jägerfleck. Dreiländerstein. Hier stand ich schon so oft. Häufig bei Langlauftouren im Winter. Aber jetzt ist es heiß, wir sind müde und die vor uns liegenden Strecke schreckt uns. Nach 3 Kilomtern sind wir dort, wo wir 1 Jahr nach der Grenzöffnung nach Benneckenstein hinunter gewandert sind. Und dann sind wir in Hohe Geiss. Hoffen auf einen Kaffee, der uns Energie gibt für die restlichen 6 Kilometer nach Tanne. Aber montags hat in Hohe Geiss alles geschlossen. Irgendwie wollen wir nach 20 Kilomter nicht mehr. Der nette Herr in der Touristikinformation klärt einen Taxipreis ab. 65 Euro. Nach Tanne sind es maximal 7 Minuten. Eine Fahrt mit öffentlichen Verkehrsnittel über Nordhausen würde 4 Sunden dauern. No comment.
Wir beschliessen zu trampen, wollen aber vorher noch etwas einkaufen, weil wir nicht wissen, was in Tanne alles geschlossen ist. In einem Tante- Emma-Laden, in dem die Zeit stehen geblieben ist, fragt Katharina den älteren Herrn ganz unverblümt: „Würden Sie uns für 20 Euro nach Tanne fahren? “ Der zögert nur ein paar Sekunden und sagt dann: „Klar!“
Wir kaufen ein, was der Laden so hergibt und lassen uns dann über Benneckenstein nach Tanne kutschieren. Inklusive Geschichtsstunde.
Ich kenne Hohe Geiss von früher als lebhaftes Örtchen, das vom Grenztourismus profitierte. Unser Fahrer bestätigt das. “ Vor dem Mauerfall kamen täglich 15 Busse an, um die Grenze zu sehen. Wir hatten in unserem Lebensmittelgeschäft täglich 1000 Euro Umsatz. Die Restaurants und Hotels boomten. Nach der Grenzöffnung ging es bergab“. Das wird uns am nächsten Tag auch eine Frau aus Hohe Geiss bestätigen, die in Tanne arbeitet: „Die Generation vor dem Mauerfall hat viel Geld verdient. Sie hat sich nach 1989 zurück gezogen und wollte die Jüngeren machen lassen. Die aber hatten nicht den Elan, neu zu denken und neu zu beginnen. Dann sind wir in Tanne. Wir haben es nicht ganz zu Fuß geschafft. Aber es war schön, und es war eine kleine Lehrstunde über die Infrastruktur auf dem Land.