Kategorie: Deutschland (Seite 1 von 10)
Reisen durch Deutschland:
Benneckenstein liegt eigentlich nicht auf der Route, die unser Wanderführer uns „vorgegeben“ hat. Trotzdem wollten wir dort unbedingt noch hin, weil mein Mann dort seine Kindheit verbracht hatte, und Katharina und Julia schöne – und lustige – Erinnerungen an die Besuche bei den Großeltern hatten. Leider musste dann Katharina direkt vom Benneckensteiner Bahnhof aus mit dem Bus weiter fahren, weil sie am nächsten Tag in Frankfurt sein musste und der Zug am Morgen sehr ungewiß war.
So marschieren dann Julia und ich durch den Ort, vorbei am ehemaligen Haus der Lampes, das jetzt wohl wieder verkauft worden ist. Benneckenstein hat sich recht ordentlich herausgeputzt. Es ist natürlich nicht zu vergleichen mit den umtriebigen Orten wie Schierke oder Tanne, denn Menschen sehen wir kaum auf den Strassen. Am Kreisel laufen wir hoch Richtung Hotel „Harzhaus“. Wir hatten in dem 4-Sterne-Hotel gebucht, weil wir hier in der Vergangenheit so viele schöne Geburtstage gefeiert hatten. Sogar Silvester habe ich schon hier verbracht. Das letzte Mal war ich im „Harzhaus“ vor 7 Jahren. In dem wunderschönen Hotel mit seiner über 100jährigen Geschichte wollten wir den Abschluss unserer Wanderung feiern.
Wie bitter wurden wir enttäuscht! Das Hotel und die Anlage ist ziemlich verwaist. Ein Blick durch das Fenster in die Rezeption sagt mehr als tausend Worte: So könnte ein Messi-Arbeitsplatz aussehen. Vor der Tür ein überquellender Aschenbecher, der wohl schon Monate nicht geleert worden ist. An der Eingangstür ein Zettel mit einer Telefonnummer, die wir anrufen sollen. Es meldet sich jemand. Gott sei Dank! Wir müssen nicht im Freien übernachten.
Nach ein paar Minuten fährt ein Auto an. Der Hotelbeseitzer mit Frau und Kind. Das Auto ist vollgeladen mit Koffern, Taschen, Schuhen, Decken, Lebensmitteln…..
Es wird immer dubioser. Das Hotel scheint seit einiger Zeit leerzustehen. Es müffelt. Der Besitzer zieht jetzt mit Sack und Pack und uns ein. Immerhin: Unser Zimmer und die Bettwäsche sind sauber. Auf Frühstück verzichten wir.
„Ziehen sich schon dunkle Wolken über dem Hotel Harzhaus zusamen?“ fragte die NNZ im Juni 2024? Eindeutig ist dem so.
Der neue Besitzer hatte die gesamte Anlage vor 5 Jahren gekauft, weil der Vorbesitzer plötzlich verstorben ist. Wahrscheinlich hat er sich übernommen. Und dann kam dann auch noch Corona….
Um überhaupt noch etwas in den Magen zu bekommen – immerhin waren wir vor 5 Stunden noch auf dem Brocken – machen wir uns wieder auf, um zur Ortsmitte zu laufen. Dort werden wir in der Pizza-Hexe wieder freundlich gestimmt. Das beigetragen haben die gute Pizza, der Wein und der junge Chef, der uns nicht nur mit Infos versorgt, sondern auch schon als kleiner Junge Patient bei Dr. Lampe war.
Satt und zufrieden wandern wir wieder hoch. Jetzt hat alles doch noch einen guten Abschluß gefunden.
Morgen gehts nach Hause.
Es nieselt. Ausgerechnet in der Nacht ist das Wetter umgeschwungen. Ausgerechnet an dem Tag, an dem wir den Brocken besteigen wollen, ist er verhangen.
Als es aufklart, gehen wir los. Zuerst über die alte Bobbahn. Sie war bis in die 50er Jahre in Betrieb und mit Baujahr 1907 eine der ältesten Bahnen in Deutschland.
Wir steigen sehr moderat auf – und kommen uns vor wie in einer dystopischen Welt: Tausende abgestorbene Fichten, die als graue Staketen in den Himmel ragen oder umgefallen sind.
„Als hätten Rübezahl und Baba Jaga Mikado gespielt“, meint Julia und gibt damit den Startschuss für die Entwicklung eines Plots für einen Science Fiction-Film, bei dem wir uns gegenseitig die Ideen zuwerfen.
Hier oben könnte wirklich einer dieser Katastrophenfilme gedreht werden. Das, was ein wenig Hoffnung gibt, sind die jungen Fichten, die anscheinend langsam nachwachsen. Da sie im Naturschutzgebiet ja nicht gesetzt werden, sondern von alleine nachwachsen, kann man hoffen, dass sie resistenter gegen die sich verändernden Klimabedingungen sind.
Weil wir so viel erzählen, sind wir plötzlich auf einem anderen Weg – in Richtung Hexenstieg. Den wollten wir eigentlich vermeiden, da er uns am Vorabend als sehr schwer zu gehen beschrieben worden war. Doch jetzt wollen wir nicht mehr umkehren.
Es geht dann tatsächlich noch 2 Kilometer über Stock und große Granitsteine und durch Wasserläufe steil nach oben . Aber mit uns wandern zum ersten Mal etliche andere Touristen – Familien mit Kindern, Menschen mit Hunden, Männer mit Kindern in der Schultertrage.
Und dann sind es nur noch ein paar 100 Meter auf der asphaltierten Strasse bis wir oben auf dem Brocken stehen. Unten im Tal scheint die Sonne, oben ist alles nebelverhangen. Der Brockenwirt hat Ruhetag, und es gibt nur Kaffee aus dem Pappbecher. Aber wir haben ja unseren Schierkuja dabei – mit Schnapsgläschen, die Julia irgendwoher organsiert hatte.
Na, denn Prost!
Runter geht es mit der Brockenbahn, denn den Abstieg will ich meinem Knie nicht antun. Die Fahrkarte geht bis Wernigerode, wo wir eigentlich weiter nach Benneckenstein fahren wollten – unserer letzten Übernachtung.
Aber wir planen während der Fahrt um, weil es mit dem Bus laut Fahrplan über Braunlage nach Benneckenstein schneller geht. Vom Schierker Bahnhof laufen wir noch 1 Kilometer bergab, um dann vom Busfahrer gesagt zu bekommen, dass der Bus von Braunlage nach Benneckenstein in der Ferienenzeit nicht fährt. So viel zum Grenzverkehr zwischen den Bundesländern!
Es bleibt uns nichts weiter übrig, als im Eiltempo mit den Rucksäcken wieder einen Kilometer hoch zu rennen, um die nächste Harzquer-Bimmelbahn direkt nach Benneckenstein zu bekommen.
Für diesen Tag bin ich genug gelaufen, denke ich. Aber es wird noch mehr….
Unser Weg hinunter nach Schierke endet im Ort direkt am „Stammhaus“ des Schierker Feuersteins – der Apotheke „Zum roten Fingerhut“. Dort nämlich hat der Apotheker Willy Drube 1908 einen Kräuterlikör entwickelt. Die „Medizin“ sollte die Kurgäste vom Magendrücken befreien. Wegen seiner rötlich-braunen Farbe nannte er ihn „Feuerstein“ – nach dem Granitfelsen, der am Schierker Bahnhof der Brockenbahn steht.
Die Idee wurde zum großen Geschäftserfolg.
Als sich die DDR in der 50er Jahren immer mehr abschottete, zog es den Schwiegersohn Druwes, ErnstGeyer, in den Westen. Dort gründete er einen neuen Betrieb in Bartolfelde, wo wir auf unserer Tour übernachtet hatten. Derweil wurde der Schierker Betrieb enteignet und vom Magdeburger Getränkekombinat übernommen. Nach der Wende wurde der Betrieb privatisiert und mit der Firma in Bartolfelde vereinigt.
Die Familie Drube/Geyer blieb weiterhin kreativ. Dreyers Tochter Britta und ihr Mann kreierten 2019 den Likör Schierkuja mit Majakuja-Geschmack und „Goldstaub“. Wieder ist man sehr erfolgreich, denn überall in der Region sieht man den Likör auf der Getränkekarte. Auch als Aperitif mit Sekt und Zitrone. Und besonders ist das neue Produkt wohl bei jungen Leuten beliebt.
Julia und ich konnten uns nicht davon abbringen lassen, je eine Literflasche zu kaufen. Und wir haben dabei in Kauf genommen, dass unsere Rucksäcke auf dem Weg zum Brocken nochmal schwerer wurden.
Mit Spaghetti und Tomatensauce, einer Flasche Wein und etwas Gebäck schließen wir den Tag auf dem Balkon unseres Apartments ab. Dabei haben wir beschlossen, morgen nicht die gesamte Strecke von 20 Kilometern hoch auf den Brocken zu laufen, sondern auf dem Grünen Band nur bis kurz unterhalb des Wurmbergs zu gehen, um dann nach Schierke zu wandern, wo wir übernachten wollen.
Von dort können wir am nächsten Tag den kürzeren, aber auch steilen Weg zum Gipfel nehmen.
Gesagt, getan. Aber ein ausgiebiges Frühstück beim Brockenbauern in Tanne muss sein. Hier war ich bereits vor 7 Jahren mit Inge und Klaus, Henning und Marlis und kannte daher die Köstlichkeiten des Hofladens und der dazugehörigen Gaststätte. Nur eines hat sich geändert: der Bulle Innozenz, Vater ungezählter Harzer Rinder, dessen Pracht wir damals bewundert haben, hängt ausgestellt an der Wand, d. h. nur sein mächtiger Kopf.
Dienst tut jetzt sein Nachfolger…
Gestärkt wandern wir entlang der warmen Bode, queren bei Sorge die Gleise der alten Harzbahn und laufen dann immer an der ehemaligen Grenze entlang ziemlich unmerklich hoch. Es ist ein sehr schöner Weg. Links der murmelt der Bach Bremke, der immer schon Grenzfluss war, rechts geht es steil in den Wald. Zu DDR-Zeiten war der Hang gerodet, um besseres Blickfeld zu haben, den Klimawandel haben viele der nachgewachsenen Fichten nicht überlebt. Danach steigen wir mal wieder auf Platten hoch Richtung Wurmberg.
Und dann bin ich plötzlich der Ursache meiner Rückenschmerzen auf der Spur – natürlich dank Julias Hilfe, die mit der Einstellung meines Rucksackes nicht einverstanden war. Ich weiß natürlich, dass die Hüften die Last tragen, aber mit der Zeit hatte ich unbewusst immer weiter an den Schulterbändern gezogen und so die Schultern belastet. Das hat zu einer Fehlhaltung und den Schmerzen geführt.
Problem erkannt, haben die Schmerzen nach einer Weile aufgehört.
Am Kaffeehorst, wo es keinen Kaffee gibt, machen wir unsere Mittagsrast. Hier stand früher ein Grenzturm, der nach der Wende abgerissen wurde. Noch früher – während der alliierten Besatzungszeit von 1945 bis 1945 – als die Grenze noch nicht befestigt war, lief hier ein reger Schmuggel zwischen Braunlage und Schierke. Vom Osten gab es „Schierker Feuerstein“, Heringe und Lebensmittel von Braunlage. Der Weg wurde dementsprechend auch Schluck oder Heringsweg genannt. Nach der Wende bauten die Harzwandervereine beider Orte den Rastplatz, wo sie sich auch immer wieder treffen und dabei sicherlich nicht nur Kaffee trinken.
Wir nehmen also den alten Schmugglerweg, der heute durch Wiesen statt durch Wald führt, vorbei an den Mäuseklippen nach Schierke.
Dort erwarten uns neben einem sehr schönen Zimmer in der Pension Andrae auch Eiskaffee und Apfelstrudel. Wir müssen uns stärken, denn morgen geht es auf den Brocken.
Bis Walkenried hatte ich die Wanderung gut geplant. Aber da ich nicht wusste, ob und wie lange mein Knie hält, war ich unsicher, wie es es dann weitergehen kann. Dass ein kleines Wunder geschehen würde, und ich 19 km mit – wenn auch leichtem – Rucksack ohne größere Probleme bewältigen könnte, war nicht vorhersehbar. So mussten wir jetzt abends im gastfreundlichen Hotel Klosterhof bei einem großen Radler erst einmal planen und organisieren.
Wir entschieden, die Tour auf dem Grünen Band wie im Reiseführer vorgesehen weiter zugehen. 23 Kilometer hoch in den Harz bis nach Tanne, wo wir auf die Schnelle ein Apartment in einer Ferienanlage bekommen hatten. Katharina nahm auch noch etwas Gepäck von mir, so dass wir am Morgen guten Mutes bei wunderbarem Wanderwetter losgehen.
Die ersten Kilometer sind auch noch einfach. Geradeaus oder sanft bergan durch Wiesen und Felder, immer noch im Gipskarst. Vorbei an einer Gipshalde und dann wieder auf dem Kolonnenweg parallell zum Flüsschen Zorge. Aber schon hier dämmert es mir, dass uns der Weg etwas vorgaukelt, uns in Sicherheit wiegt, bevor er steil zuschlägt. Denn vor uns erhebt sich – noch in der Ferne – der dunkle Harz. Nach dem ‚Spitzen Winkel“ scheint es dann wirklich loszugehen, denn wir müssen tatsächlich im spitzen Winkel auf einen kleinen Waldpfad einbiegen, der parallel zum ehemaligen Plattenweg führt. Übrigens: Mein Wandernavi ist kaum von Nöten, denn nirgendwo auf den Touren der vergangenen Jahre war der Weg – sei es als Grünes Band, sei es als Grenzwanderweg – besser ausgewiesen als hier im Harz.
Es geht durch den Forst bergan, immer noch Mischwald, moderat und auf weichem Waldboden.
Wir wechseln immer wieder mit ein paar Schritten von einem Bundesland ins andere, weil wir genau auf der ehemaligen Demarkationslinie unterwegs sind. Und dann kommen wir zu einem ganz kuriosen Ort mitten im Wald, der Zweiländereiche. Hier versammelt sich ein ganzes Konvolut von Grenzsteinen: ein Forststein, ein Stein, der ab 1816 hier die Grenze zwischen dem Königreich Preußen und dem Herzogtum Braunschweig markiert hatte, ein noch älterer Stein, der ab 1668 den Stift Walkenried begrenzte und den Grenzstein der DDR ab 1968. Dazwischen noch die schwarz-rot-gelben Grenzpfähle. Deutsche Geschicht eben.
Immer noch bin ich frohen Mutes ob des relativ moderaten Anstiegs, obwohl mich seit gestern Kreuzschmerzen plagen, die jetzt immer stärker.rker werden.
Und dann geht es sehr steil hoch auf einem schmalen Waldpfad mit mächtigen Steinen. Es ist schwül warm. Die beiden Mädels neben mir mit den schweren Rucksäcken schnaufen jetzt auch. Dann von oben ein Juchzen. Wir haben es wohl geschafft und sind an der Wendeleiche angekommen. Das war Anfang des 20. Jahrhunderts ein mächtiger Baum, dessen Krone man über eine Wendeltreppe erklimmen konnte. Von dort hatte man eine prächtige Aussicht auf den Brocken. Nach der Genzziehung wurde die „Aussichtsplattform“ niedergelegt. Heute sehen wir nur noch ein Gerippe mit rostigen Eisenstäben.
Ein paar Schritte weiter hat man heute auch vom Boden einen wunderbaren Blick auf den Brocken. Leider auch auf die Zerstörungen durch den Klimawandel. Kahle Hänge und Tausende von Fichtengerippen.
Während wir bisher durch Mischwald gewandert sind, haben wir jetzt den Nadelwald erreicht. Oder was davon übrig ist. Der Weg führt an Harzer Höhenwiesen vorbei, mal auf, mal ab. Leider fehlt mir wegen der Schmerzen im Rücken, die trotz Tabletten nicht besser werden, der Sinn für die Naturschönheiten. Auch nicht für die skurrilen Namen der Wegmarken wie „schwangere Jungfrau“ oder „Schwiegermutter“.
Und dann erreichen wir bekanntes Terrain: Wir sind in der Nähe von Benneckenstein, der Heimat meiner verstorbenen Schwiegereltern und meines verstorbenen Mannes. Jägerfleck. Dreiländerstein. Hier stand ich schon so oft. Häufig bei Langlauftouren im Winter. Aber jetzt ist es heiß, wir sind müde und die vor uns liegenden Strecke schreckt uns. Nach 3 Kilomtern sind wir dort, wo wir 1 Jahr nach der Grenzöffnung nach Benneckenstein hinunter gewandert sind. Und dann sind wir in Hohe Geiss. Hoffen auf einen Kaffee, der uns Energie gibt für die restlichen 6 Kilometer nach Tanne. Aber montags hat in Hohe Geiss alles geschlossen. Irgendwie wollen wir nach 20 Kilomter nicht mehr. Der nette Herr in der Touristikinformation klärt einen Taxipreis ab. 65 Euro. Nach Tanne sind es maximal 7 Minuten. Eine Fahrt mit öffentlichen Verkehrsnittel über Nordhausen würde 4 Sunden dauern. No comment.
Wir beschliessen zu trampen, wollen aber vorher noch etwas einkaufen, weil wir nicht wissen, was in Tanne alles geschlossen ist. In einem Tante- Emma-Laden, in dem die Zeit stehen geblieben ist, fragt Katharina den älteren Herrn ganz unverblümt: „Würden Sie uns für 20 Euro nach Tanne fahren? “ Der zögert nur ein paar Sekunden und sagt dann: „Klar!“
Wir kaufen ein, was der Laden so hergibt und lassen uns dann über Benneckenstein nach Tanne kutschieren. Inklusive Geschichtsstunde.
Ich kenne Hohe Geiss von früher als lebhaftes Örtchen, das vom Grenztourismus profitierte. Unser Fahrer bestätigt das. “ Vor dem Mauerfall kamen täglich 15 Busse an, um die Grenze zu sehen. Wir hatten in unserem Lebensmittelgeschäft täglich 1000 Euro Umsatz. Die Restaurants und Hotels boomten. Nach der Grenzöffnung ging es bergab“. Das wird uns am nächsten Tag auch eine Frau aus Hohe Geiss bestätigen, die in Tanne arbeitet: „Die Generation vor dem Mauerfall hat viel Geld verdient. Sie hat sich nach 1989 zurück gezogen und wollte die Jüngeren machen lassen. Die aber hatten nicht den Elan, neu zu denken und neu zu beginnen. Dann sind wir in Tanne. Wir haben es nicht ganz zu Fuß geschafft. Aber es war schön, und es war eine kleine Lehrstunde über die Infrastruktur auf dem Land.
19 Kilometer bis nach Walkenried liegen vor uns. Ich habe so meine Zweifel, ob ich das mit meinem kaputten Knie schaffe. Aber die Notfallkrankenschwester ist ja an meiner Seite.
Es ist 9 Uhr beim Start und schon recht warm. Schnell lassen wir Bartolfelde hinter uns. Es geht durch Wiesen und Felder sachte bergauf in einen Mischwald. Wir laufen heute zu einem großen Teil auf dem Karstwanderweg. Die Gegend bis Walkenried ist Karstgebiet, was wir bald sehr eindrücklich sehen. Kreisrunde kleinere und größere „Krater“ liegen an unserem Weg, viele mit Wasser gefüllt, andere trocken. Grundwasser spült den Gips, der unter einer Schicht von Flussterrassenkies liegt, langsam weg. Die Erde bricht an manchen Stellen trichterförmig ein. So entstehen Teiche mitten im Wald. Irgendwie geheimnisvoll sehen die von Buchen und Eichen umstandenen und mit Wasserlinsen bedeckten, oft kreisrunden Wasserflächen aus. Und tatsächlich hat man in einem oberhalb von Bartolfelde bei einem Tauchgang in den 70er Jahren nicht nur ein totes Schwein, sondern auch eine Frauenleiche entdeckt.
Das tut unserer Stimmung aber keinen Abbruch, und wir wandern über weichen Waldboden oder mit Moos bewachsenen Plattenweg, begleitet von Vogelgezwitscher, Waldblumen, Himbeeren und Erdbeeren Richtung Osten nach Mackenrode.
Kurz vor dem Ort, am Ausgang des unter Naturschutz stehenden Mackenroder Forstes, werden wir auf eine weitere beklemmende deutsche Geschichte aufmerksam gemacht: In Nazi-Deutschland gab es die Helmebach-Bahn, benannt nach dem Fluss, der durch die Region fließt. Sie führte von Nordhausen über das KZ Mittelbau Dora, Ellrich und Walkenried nach Osterhagen. Im letzten Kriegsjahr sollte die Bahn nur noch dem Verkehr zu den unterirdischen Rüstungsfabriken bei Nordhausen dienen. Deswegen wollte man eine zweite Bahn bauen lassen. Dafür wurden über 2000 KZ-Häftlinge eingesetzt. An der Strecke waren die Lager für die Baubrigaden, auch in Mackerode. Die Menschen mussten wie Sklaven arbeiten. Es gab kaum technisches Gerät. Hunderte starben durch Misshandlungen, Hunger, Ungezieferbefall, Erfrieren, Ermordung. Dann wurden diejenige, die noch am Leben waren, am 6. April 1945, als die Alliierten nahten, auf den Todesmarsch geschickt. Über Wernigerode in die Altmark. Nur die Hälfte überlebte.
So steckt unter der Idylle noch das Grauen.
Wir gehen den Weg weiter bis nach Walkenried. Das herrliche Zisterzienserkloster – UNESCO-Weltkulturerbe – begrüßt uns. Und fast zeitgleich mit uns ist am Klosterhotel meine Tochter Katharina angekommen, die unser Trio bis zum Brocken komplettieren wird.
Sonne mit ein paar Wolken, nicht zu heiß – so präsentiert sich uns der zweite Tag unser Wanderung. Ideal, sollte man meinen. Ganz so bleibt es nicht hat, obwohl am Ende doch alles sehr gut ist.
Problem Nr. 1. Wir wissen, dass es an unserem Ziel in Bartolfelde keine geöffnete Gaststätte gibt. Wenn alle Stricke reißen, sollten wir etwas Verpflegung für den Abend haben. In Brochthausen, der nächste Ort auf dem Grünen Band nach dem Paterhof, finden wir einen Privatverkauf für Eichsfelder Wurst. Das trifft sich gut. Jetzt brauchen wir nur noch Brot. Da soll es eine Bäckerei in Zwinge geben, die samstags bis 11 Uhr geöffnet hat. Da der Ort gut 1 Kilometer abseits der Route liegt, erbarmt sich die liebe Julia und läuft alleine los, während ich auf der Bank unter der Einheitseiche warte, die anscheinend schon mal der Blitz getroffen hat. Meine Nichte kommt überraschend schnell zurück – ohne Brötchentüte. Die Bäckerei hat Betriebsferien. Na ja: in der allergrößten Not schmeckt die Wurst auch ohne Brot
Problem Nr. 2 zeigt sich, nachdem wir in den wunderschönen Mischwald auf den Plattenweg einschwenkt sind. Die Wanderung heute sei eine leichte, schreibt die Reiseführern. Weiter schreibt sie von 1,5 Stunden auf und ab. Aber so steil habe ich mir das nicht vorgestellt. Es geht nicht wie bei normalen Bergwanderungen auf Wanderwegen langsam aufwärts, sondern auf dem Plattenweg direttissima hoch, um dann sofort wieder im gleichen Winkel abzufallen.
Hoch geht’s langsam, damit ich nicht ganz aus der Puuste komme, runter geht’s langsam, weil ich das Knie schonen will. Es ist eine Schufterei!
Endlich oben auf der Höhe angekommen, gehen wir an Windanlagen vorbei, die einen Höllenlärm machen. Und dann lassen wir sie einfach auf die Wiese fallen!
Danach geht es auf der Höhe herrlich weiter durch eine einsame Mittelgebirgslandschaft. Hinter uns das Ohmgebirge, vor uns der Harz mit dem Brocken und dem Wurmberg.
Bald erreichen wir Bartolfelde und unsere Unterkunft in einem Bauernhof, wo die nette Gastgeberin natürlich ein paar Brotscheiben übrig hat.
Dort treffen wir Vater (80) und Tochter, die ebenfalls am Grünen Band unterwegs sind. Es ist seit meinem Tourstart 2018 erst das zweite Mal, dass ich Gleichgesinnte treffen, die sich ebenfalls vorgenommen haben, die ehemalige innerdeutsche Grenze zu erwandern. Wie ähnlich unsere Erlebnisse und Wahrnehmungen sind! Doch es gibt einen großen Unterschied: Was wir in zwei Tagen an Strecke bewältigen, schaffen die beiden an einem Tag. Hut ab
Und dann kam ja noch der Höhepunkt des Nachmittags: In einem Dorfcafee in einem wunderschönen verwunschenen Garten gab’s Kaffee und selbstgebackene Torte. Es war das größte Tortenstück, das mir jemals serviert wurde. Und eines der leckersten.
Dass der Paterhof, unsere Übernachtung heute, in Niedersachsen steht, war lange strittig. Das Hauptgebäude, dessen ursprüngliche Bedeutung sich noch erahnen lässt, stammt von 1752. Als Vorwerk des Benediktinerinnenklosters von Gerode, war es sozusagen der landwirtschaftliche Außenposten, der das Kloster versorgte. Als die russische Armee am Ende des 2. Weltkrieges einmarschierte, floh der Pächter: „Der Russe kam und schoß der Sau in den Kopf. Das Schweinefleisch sollte die Soldaten ernähren. Aber das Gleiche haben die Amerikaner mit der Kuh gemacht“, erzählt Erich Hackethal in einem Zeitungsartikel von vor 10 Jahren.
Nach dem Potsdamer Abkommen hatten die Siegermächte vereinbart, dass sich die Grenze zwischen der russischen und der westlichen Besatzungszone an den alten Landes- und Provinzgrenzen richten sollte ( deshalb sehen wir am Grünen Band auch heute noch viele alte Grenzsteine z. B. des Königreiches Preußen, der Provinz Sachsen oder des Königreiches Hannover).
Diese Grenzziehung war aber im Detail sehr schwierig umzusetzen, und so einigte man sich im Wanfrieder Abkommen auf Gebietstausch in verschiedenen Regionen. Nach dem Potsdamer Abkommen hätte der Paterhof auf thüringischer Seite gelegen, und wäre wahrscheinlich, wie so viele Höfe unmittelbar an der Grenze auf DDR-Seite, im Zuge des Grenzausbaus plattgemacht worden. So aber wurde der Hof – allerdings ohne den Großteil der landwirtschaftlichen Fläche – Niedersachsen zugeschlagen.
1953 dann, im Zug des weiteren Grenzausbaus, versuchten die DDR-Behörden sich weiteres Land einzuverleiben, indem ein Trecker der LPG einfach eine Schneise durch das Flachsfeld fuhr. Da der Paterhof noch nicht im Grundbuch stand, war die Situation prekär. Um Schlimmeres zu verhindern, wurde der Bundesgrenzschutz gerufen. Später patroullierten die in Goslar stationierten Engländer. 1970 wurde der Hof ins Duderstädter Grundbuch eingetragen. Aber nach dem Mauerfall hieß es wieder: Wohin gehört der Paterhof? Er blieb in Niedersachsen, und der Pächter kaufte den Hof mitsamt dem angrenzenden Land.
Dank Julia, die einen Teil meines Gepäcks in ihrem Rucksack verstaut hat – böse Zungen sprechen in diesem Fall von einer Sherpa – gelingt mir der Start nach einem Jahr ohne Rucksackwandern recht gut. Dazu beigetragen hat auch das fantastische Frühstück im Hotel, das uns zusätzliche Energie gibt. Die haben wir auch nötig, denn kaum sind wir unterwegs, beginnt es zu nieseln. Das stört noch wenig, und wir lassen uns noch die Zeit, an einem Mahnkreuz für den NVA-Soldaten André Rössler Halt zu machen, der hier 1976 bei einem Fluchtversuch erschossen worden ist. Seine Ermordung wurde danach auf perfide Weise vertuscht, um dem Klassenfeind im Westen keinen Anlass zur Hetze auf die DDR zu geben: “ Wenn z.B. der Löwenthal (ZDF) von dieser Sache Wind bekommt, ist er morgen mit einem Fernsehteam in Hondorf, und dann geht die Rakete los (Generalmajor Siegfried Gehlert, Leiter der Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt).
Auf dem Kolonnenweg von Teistungenburg aus in Richtung Fuhrbach geht es ziemlich giftig bergauf und bergab durch die Ausläufer des Ohmgebirges, Duderstadt mit seinen markanten Kirchtürmen immer linker Hand in der Ferne. Wieder einmal bin ich als Grenzgängerin unterwegs, dieses Mal zwischen Niedersachsen und Thüringen. Mittlerweile prasselt der Regen auf uns runter und selbst die besten Regencapes geben langsam ihren Widerstand gegen das Nass von oben auf. Gott sei Dank gibt’s jede Menge Schutzhütten unterwegs.
Nach einer der vielen kurzen aber anstrengenden Anstiege sehen wir Licht hat am Horizont, und als wie am ost-westlichen Tor ankommen, hat sich der Regen verzogen, und zaghaft wagt sich die Sonne vor. Wie symbolträchtig! Hier haben nach der Grenzöffnung Anka Förster und Robert Schützle zwei zwölf Meter hohe Eichenstämme mit einer am Boden liegenden Edelstahlschwelle verbunden. Darum gruppieren sich 66 Eichen, die mittlerweile eine beachtliche Größe erreicht haben. Ein topos, ein locus amoenus, an dem sich einst Michael Gorbatschow und Jürgen Trittin ( damals niedersächsischer Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten) die Hände reichten: Hier sollte zusammenwachsen, was zusammengehört. So ganz hat das bis heute nicht geklappt.
An der Sielmannshütte – in der Nähe befindet sich Gut Herbigshausen, ein Naturerlebniszentrum der Stiftung des Tierfilmers -, trocknen wir notdürftig unsere Kleidung. Julia wringt ihr klatschnassen Socken aus, ich trockne das Regencape in der Sonne.
Es geht noch einmal sehr steil hoch zum Bunsenberg durch dichten Wald auf einem sehr stark bewachsenen Plattenweg, den man als solchen gar nicht mehr richtig erkennen kann – aber ein wenig Abenteuer muss sein.
Dann wird es etwas einfacher und idyllischer; über uns kreisen die Rotmilane, seitlich im Feld springen die Rehe.
Nach Fuhrbach, ein langgestrecktes Strassendorf auf niedersächsischer Seite, sind es noch zwei Kilometer bis zum Paterhof, einem landwirtschaftlichen Betrieb mit besonderer Geschichte. Hier übernachten wir.