„Leere Muscheln im Sand / Verlassen vom Meer als es ging / als es ging, das Meer auf die Reise / auf die Reise zu anderen Meeren. / Es verließ seine Muscheln, / perfekt von ihm poliert, / bleich von den nie endenden Küssen / des Meeres, das ging auf die Reise.“ Pablo Neruda, Übersetzung: Tias
Ich gehe wieder auf Reisen – nicht allein, sondern mit Schwager und Schwägerin. Wir besuchen die Nichte meines Mannes in Chile. Ich bin so gespannt auf das Fremde.
Es ist das Santiago der Gutsituierten, das wir in den ersten Tagen kennenlernen. Hier im Viertel Las Condas spiegeln sich die Hochhäuser in den Glasfassaden der Wolkenkratzer gegenüber, sind die Rasen frischgrün, werden die Strassen ständig gekehrt, stehen Elektoroller zum Verleih, spielen Kinder mit ihren gut angezogenen Müttern (und manchmal auch Vätern) auf Spielplätzen, laufen junge Männer in weißen Hemden geschäftig mit dem Handy am Ohr auf blitzblanken Bürgersteigen. Der Verkehr hält sich in Grenzen, denn es sind Sommerferien und wer kann, fährt hinaus aus der Stadt, die in einem Kessel auf 500 Meter Höhe liegt, umgeben von den Gipfeln der Anden, dem Küstengebirge und Hügeln im Norden und Süden. Oft ist der Smog so dicht, dass man die 6.000er nicht mehr sieht. Klar, dass die Luftverschmutzung eines der großen Probleme in Santiago ist. Heute ist der Himmel strahlend blau, manchmal geht sogar eine frische Brise. Wir fahren mit der Metro (hypermodern) vom Botschaftsviertel ins Regierungsviertel, das Zentrum von Santiago. Hier mischen sich die Architekturstile, ein Querschnitt durch die Jahrhunderte: die neoklassizistische Moneda, einstmals Münze, dann Präsidentensitz, den Pinochet 1973 bombardierte und indem sich Salvadore Allende erschoss, als er keinen anderen Ausweg mehr sah. Da sind die großbürgerlichen Häuser aus der Zeit der Salpeterbarone, die Patios, die prächtigen Jugendstilgebäude. Ministerien, Hauptpost, Verwaltungsgebäude. Vor allem aber immer wieder Einkaufspassagen – alte aus der Zeit des Artdeco und neue Malls. Chilenen scheinen gern einzukaufen (wenn sie das nötige Geld dazu haben). Wir trinken Kaffee am Plaza de Armas, wo sich das Leben abspielt, schauen dem ständigen Strom der Menschen zu, die über den Platz laufen., wo Luftballonverkäufer ihre bunten Ware und Strassenmmaler ihre Künste anbieten. Hier trifft man sich, isst Eis, spielt Schach…
Im Museo Historico National betreiben wir ein wenig chilenische Geschichtskunde. Leider endet der Rundgang mit dem Putsch Pinochets. Ein Museum zur jüngsten Vergangenheitsbewältigung liegt in einem anderen Stadtteil Santiagos. Vielleicht klappt ein Besuch nach unserer Rückkehr aus der Atacama. Wir schlendern durch die Strassenzüge rund um den Plaza des Armes, an den Zelten der Wahrsagerinnen vorbei, die heute ein gutes Geschäft machen, und landen irgendwann im Mercado Municipal, wo die Fischverkäufer langsam Feierabend machen und die Kellner der Restaurants mit ihren Rufen immer noch den einen oder anderen Gast anlocken wollen. Wir lassen uns verführen, essen relativ teuren, trocken gekochten Fisch, haben dafür aber einen tollen Blick über die gesamte Halle.
Wir fahren Richtung Vaparaiso ins Tal Casablanca. Weinland. Zwar sind wir hier nicht in einem der alten Weingütern, sondern im erst seit 25 Jahren existierenden „Casas de Bosques“, dessen Besitzer aus Rapallo nach Chile eingewandert ist. Der Wein, der hier ausgebaut wird, ist aber derart himmlisch, dass ich das Risiko eingehe, und eine Flasche Syrah Pequenos produciones mit nach Mainz nehme. Und dann – vor einer Führung durch Weinberge und Keller – ein Mittagessen vom Feinsten mitten in den Weinbergen. Es ist ein wenig so edel wir im Rheingau. Und tatsächlich wird hier auch Riesling angebaut – neben Merlot, Chardonnay, Sauvignon blanc, Carmenere…..
Auf dem Plaza de Armes in Santiago stehen zwei Monumente: ein Reiterdenkmal Pedro de Valdivias und eines neueren Datums von 1990 für die indigene Bevölkerung. Das ist so widersprüchlich. Valdivia, Konquisitator, der als Gründer Santiagos gilt, hat die ursprünglichen Bewohner unterworfen, Tausende ermorden lassen, und Ungezählte zum Frondienst gezwungen. Die indigene Bevölkerung – die Mapuche, Ajmara, Atacemenos und eine Vielzahl weiterer Ethnien – ist im Laufe der kriegerischen Auseinandersetzungen auch in späteren Jahren immer weiter dezimiert worden. Es ist nur ein erster Eindruck, aber ich habe nicht das Gefühl, dass sich die Chilenen sehr mit den Menschen, die das Land ursprünglich besiedelten, identifizieren. Natürlich schätzen sie die jahrhundertealte Kultur der indigenen Bevölkerung, im Vordergrund aber steht wohl eher das europäisch-spanische Erbe. Nach Valdivia ist übrigens auch eine Metro-Station benannt…
Wir haben es wirklich bequem: Gegen Mittag wurden wir zum Flughafen gefahren, um mit dem Flieger nach Calamar in den Norden zu kommen. Dort stand schon der Taxi-Bus bereit, der uns ins rund 100 Kilometer entfernte San Pedro in der Atacama brachte. Wir fahren vorbei an Siedlungen für die in den Kupferminen arbeitenden Mineros und ihrer Familien hinein in die gelbgraue Wüste. Unwirklich, unwirtlich und doch faszinierend. Wir sind jetzt auf über 2000 Meter Höhe. Rechts und links Sand, Steine, Geröll, nur ab und zu ein vereinzelter kleiner Strauch. Fata Morganen. Die Strasse auf der Hochebene ist gut ausgebaut, streckenweise schnurgerade – und verführt zum Rasen. An der Seite sehen wir viele kleine Altäre, Zeichen von tödlichen Verkehrsunfällen. Am Horizont tauchen im Dunst Vulkankegel auf, zwischen 5000 und 6000 Meter hoch. Nach etwa einer Stunde wird es etwas grüner. Wir nähern uns der Oase San Pedro. Die Stadt in der Wüste besteht fast nur aus Adobe-Häusern, gebaut mit ungebrannten Lehmziegeln. Dank kluger Bauvorschriften sind die meisten Häuser ebenerdig. Die Strassen sind nicht alle geteert. Irgendwie strahlt der Ort etwas Besonderes aus. Vielleicht liegt das an den beruhigend rötlich braunen Farben der kleinen Häuser, vielleicht an den hohen Gipfeln am Horizont, vielleicht daran, dass der Ort eine Oase in der unendlich erscheinenden Wüstenlandschaft ist, die ständig ihre Farbe wechselt. Vielleicht aber auch daran, dass hier Leben ist. Denn wir sind nicht allein. Es wimmelt hier von meist jungen Touristen, die zu dieser Jahreszeit die Strassen im Ortskern bevölkern. Die Hauptstrasse ist abends so ein wenig wie die „Drosselgasse“ von San Pedro. Man findet hier alles: Restaurants für jeden Geldbeutel, unzählige Tourveranstalter, die Ausflüge zu den Naturwundern der Wüste anbieten, Andenkenshops, kleine Lebensmittelgeschäfte, Trekkingläden, Kunsthandwerk. Wir essen sehr gut im „Adobe“ und erholen uns langsam vom Stress des frühen Abends. Davon im nächsten Blog.
ALMA – ein magisches Wort für jeden Astronom oder Physiker. Die europäische Südsternwarte (ESO) betreibt in der Atacama bei San Pedro mit internationalen Partnern das Atacama Large Millimeter Array (ALMA). 66 Präzisionsantennen mit einem Durchmesser von bis zu 12 Metern sind zu einem riesigen „Auge“ zusammengeschlossen. Dieses Teleskop kann noch die schwächsten Lichtwellen im „kalten Universum“ auffangen, – also dort, wo eigentlich alles dunkel und leer erscheint, im Raum „zwischen den Sternen“.
Nur in der klarsten und trockensten Luft der Welt, in der Atacama-Wüste auf dem Chajnantor-Plateau in 5000 m Höhe, kann das Teleskop seine volle Wirkung entfalten. Der Besuch dort ist ein Traum meines Schwagers, selbst Physiker. Bereits früh hatten wir in Deutschland versucht, eine Besichtigungstour zu buchen – ein vergebliches Unterfangen, denn die Plätze waren bis Ende März bereits ausgebucht (ALMA ist für Besucher nur am Wochenende geöffnet). Meine Nichte in Santiago versuchte es über Freunde von Freunden – aber auch dies schien nicht zu klappen. Und so hatten wir uns schon damit abgefunden, dass es nichts werden würde. Dann am Abend vor unserem Abflug nach San Pedro kam ein Anruf: Wir dürfen! Wir müssten uns lediglich ein Auto besorgen, um hoch zu fahren. Leicht gesagt, schwer umgesetzt, wenn man am Samstagabend in San Pedro ankommt. Aber dank meiner spanisch sprechenden und hartnäckigen Schwägerin stand am nächsten Morgen ein Jeep mit Fahrer vor unserer Lodge – auch wieder privat auf Umwegen über die netten Menschen in unserer Vincuna-Lode.
Die Sicherheitsvorrichtungen bei ALMA sind streng, aber wir waren ja bereits angekündigt. Und so kamen wir in den Genuss einer Privatführung durch einen überaus liebenswürdigen jungen Wissenschaftler, der voll Leidenschaft dieses einmalige Projekt erklärte. Wir durften in die Laboratorien, sahen den riesigen Transporter, mit dem die Antennen an unterschiedliche Standorte geschafft werden können, wir sahen das Innere eines Receivers in einem Wartungsraum und eine der Antennenschüsseln.
Natürlich habe ich wenig von allem verstanden. Und ich habe zum ersten Mal bereut, dass ich im Physikunterricht nicht bei der Sache war. Vielleicht hätte ich auch so einen Lehrer wie meinen Schwager gebraucht, der verständlich und bildhaft erklären kann. Aber es fasziniert und erfüllt mich mit Bewunderung, was Menschen in der Lage sind zu schaffen, in welche Sphären sie vordringen können, weil sie dem Ursprung des Universums auf die Spur kommen wollen. Wie es gelingen kann die Geburt von Sternen zu beobachten, ferne Galaxien am Rande des sichtbaren Universums zu sehen und Lichtwellen dann in „Bilder“ umzuwandeln, die für mich als Laie magische Kunstobjekte sind. Der Besuch von ALMA war jede Anstrengung im Vorfeld wert.
Es gurgelt und zischt, brodelt und dampft aus der Erde. Die Morgendämmerung taucht die Landschaft in ein sepiafarbenes Licht. Die Luft ist kalt und klar. Denkt man sich die Touristen weg, könnte es der Eingang zu Dantes Inferno sein. Wir sind auf 4.230 Meter Höhe im Krater der Tatio Geysire. El Tatio kommt aus der Quetscha-Sprache und heißt „der Mann, der weint“. Tatsächlich weint er viele Tränen aus vielen Augen: Geysire spucken in die Höhe, Schlammlöcher brodeln, Fumarole stossen giftig gelben Dampf aus, den ganzen Krater durchziehen kleine Rinnsale.
Um dieses Naturereignis zu erleben, müssen wir um 4 Uhr in der Nacht losfahren. Denn am frühen Morgen, wenn es noch unter 0 Grad ist, ist das Spektakel am stärksten. Der Bus eines Tourveranstalters holt uns an unserer Lodge ab. Die Strasse geht steil in Serpentinen nach oben und vielleicht ist es ganz gut, dass es dunkel ist. Manchmal werfe ich einen Blick aus dem Fenster. Der Weg ähnelt teilweise der Strasse hoch nach La Paz, der gefährlichsten Route der Welt. Gott sei Dank haben wir keinen Gegenverkehr. Dafür sind wir aber nicht allein unterwegs. Wie eine Karawane ziehen kleinere und grössere Tourbusse, Pickups, Range Rovers und Limousinen den Berg hinauf. Fast schon oben, stoppt der Verkehr. Ein auf dem Dach liegendes Auto, das sich überschlagen hat. Alle nachkommenden Autos fahren seitlich an der Unfallstelle vorbei. Wie wir später am Tag hören, sind die Insassen unbeschadet davon gekommen. Auf der Höhe geht es auf einer Wellblechpiste weiter. Ich denke wieder einmal an Afrika. Mit Hubert bin ich manchmal stundenlang auf diesen ungeteerten Ruckelstrassen unterwegs gewesen. Im Krater muss ich mich erst an die vielen Menschen gewöhnen, die in dicken Winterjacken, Mützen und Handschuhen auf den vorgegebenen Wegen des Naturparks unterwegs sind. Alles ist hier streng geregelt. Es gab wohl schon einige Unfälle mit schweren Verbrennungen. Nicht verbrannt hat sich meine Schwägerin, die in ein grosses Naturbecken mit dem warmen Wasser aus der Tiefe steigt. Ich kann mich nicht dazu entschließen und laufe noch ein wenig, vorbei an Schlammlöchern und Geysiren. Auf welch dünner Kruste wir uns doch bewegen!
Die Fahrt weiter führt durch Sand- und Steinwüste. Riesige rote Steine, manchmal wild „übereinander gestapelt“, erinnern an den Sinai. Aus dem Bus sichten wir einen Wüstenfuchs. Vincunas und Flamingos suchen in kleinen Lagunen Futter. Was wir zuerst als Möwen identifizieren (und uns natürlich wundern) ist tatsächlich die in den Anden lebende Gaviota Andina, die es nur noch in einer sehr kleinen Population gibt.
Viel Leben also in diesem Teil der Wüste. Am Nachmittag werden wir eine andere Einöde kennenlernen.
Der Vormittag in über 4000 Meter Höhe war anstrengend. Der Nachmittag sollte ein ebenso anstrengendes Highlight werden. Wir sind in der Salzkordillere, ein paar Kilometer von San Pedro, im Valle de la Luna. Eine Karstlandschaft, die entstanden ist, nachdem sich vor Millionen von Jahren die Schichten eines ehemaligen Salzsees gehoben hatten und erodiert sind. Wadis, Erdpyramiden, Sanddünen, Kämme, Dolinen bilden Kunstwerke wie sie nur die Natur schaffen kann. Ich kann mich nicht sattsehen. Abends ist der Akku der Kamera leer.
Aber: Hier gibt es außer Touristen, Guides und Angestellten des Parks kein Leben. Früher allerdings schufteten Menschen in dieser Wüste, die Salz abbauten. Unmenschlich!
Nichts kann überleben in dieser salzhaltigen Erde, in dieser Landschaft, in der es vielleicht einmal im Jahr regnet. Keine Pflanzen, keine Tiere. Selbst in der Namib ist mehr Leben.
Und wir wandern in dieser lebensfeindlichen und gleichzeitig faszinierend schönen Landschaft zusammen mit einer internationalen Gruppe junger Leute. Wir steigen durch tiefen Sand Kämme hoch, kriechen mit Taschenlampen durch Höhlengänge, klettern, kommen ins Schwitzen – aber wir halten gut mit. Es macht Spaß! Der angekündigte Sonnenuntergang fällt auf diesem Breitengrad kurz aus. Die Sonne fällt einfach runter. Beeindruckend ist vor allem die Menge der Menschen, die sich auf den natürlichen Aussichtsplattformen versammelt hat.
Im Moment erhöhen wir drei den Altersdurchschnitt der Touristen in San Pedro gewaltig. Backpacker auf den Gassen, junge Männer, die ihrer Gitarre auf der Plaza melancholische spanische Weisen entlocken, durchtrainierte Sandboarder, die in den Sanddünen ideale Bedingungen haben, verliebte Pärchen auf Lateinamerikareise. Seltener sind in die Jahre gekommene Aussteiger, die es sich leisten können, den eigenen, hochspezialisierten Camper mit dem Frachtschiff nach Lateinamerika zu transportieren, um dann mit grauem Zopf (Mann) und buntgemusterten Waller-Kleidern (Frau) von ihren Erlebnissen zu erzählen. Schläfrige Gelassenheit liegt über dem Marktplatz mit seinen Cafes unter Laubengängen, dem Park und der alles dominierenden Kirche aus Adobe, in der eine Christusfigur fast schon unheimlich dem ESC-Gewinner Conchita Wurst ähnelt.
Ältere Atacamenos sitzen auf Steinmäuerchen und halten ein Schwätzchen. Auch die Müllarbeiter, die sonst unentwegt unterwegs sind, gönnen sich eine Pause. Und wir trinken frischgepresstem unverdünntem Orangensaft ohne Zuckerzusatz.
In den Gassen mit ihren Tourveranstaltern, Souvenirpassagen, Kneipen und Restaurants wird niemand angemacht. Man kann schlendern und schauen, ohne dass man bedrängt wird. Nicht nur in den Mittagsstunden, sondern auch abends, wenn aus den Bars und Sandwicherias der Beat schlägt. Die Atacaminos, die hier leben, sind freundliche, zurückhaltende, zuverlässige Menschen. Viele profitieren von den Attraktivitäten der Wüste, der Bauboom lässt die Stadt wachsen, Hostels überall, und unfertige An- und Neubauten.
Und doch liegt über der gesamten Gegend ein Schatten, der immer größer wird: Lithium. In der Atacama wird der begehrte Rohstoff für Batterien – Handys und Elektroautos! – abgebaut. Chile ist nach Australien der zweitgrösste Lieferant. Und die Nachfrage boomt. Doch was für die chilenische Wirtschaft ein Segen ist, birgt für die Bevölkerung, besonders die Indigene, existentielle Gefahren. Verschiedentlich haben überregionale Zeitungen in Deutschland schon kurz darüber berichtet. Ein ausführlicher – und wohl gut recherchierter – Artikel findet sich in „Amerika 21. Nachrichten und Analysen aus Lateinamerika“ vom Dezember 2018. Er stammt von Sophia Boddenberg. https://amerika21.de/analyse/219317/die-schattenseiten-des-lithium-booms
Es sind aus ihrer Sicht 4 Punkte, die dazu beitragen, dass Mensch und Natur durch den Lithium-Abbau stark betroffen sind. 4 Punkte, die meiner Meinung nach eng zusammen gehören.
Chile, so wird ein chilenischer Wissenschaftler im Artikel zitiert, konzentriert sich auf die Steigerung der Lithium-Produktion und vernachlässigt die Forschung und Entwicklung der Verarbeitung des Metalle.
Die Chemiefirma SQM, mit der die chilenische Wirtschaftsförderung vertraglich gebunden ist, war einst in Staatsbesitz und wurde unter der Militärjunta Pinochets privatisiert. Der Familie Pinochets gehört heute ein Drittel des Unternehmens, das immer wieder in den Schlagzeilen ist wegen Geldwäsche und Steuerhinterziehung.
Das Lithium-Vorkommen Chiles liegt im Salar des Atacama, einem Salzsee nahe San Pedro. Das Alkali-Metall wird durch Verdunstung des mineralischen Grundwassers in Becken gewonnen. Dabei wird extrem viel Wasser verbraucht: der Grundwasserspiegel sinkt, Feuchtgebiete trocknen aus, Abwässer werden oft ungeklärt abgeleitet. Was das alles für die grösstenteils indigene Bevölkerung bedeutet, liegt auf der Hand.
Wasserresourcen und -management sind in Chile privatisiert. Die Wasserrechte in der Region um den Sala de Atacama hält SQM (siehe oben).
Der Rat der indigenen Bevölkerung und Gewerkschaften protestieren seit lange gegen das Abkommen der chilenischen Wirtschaftsförderung mit SQM.
Wir begreifen uns als Teil der Pata Hoiri, der Mutter Erde. Wir respektieren sie und deshalb verteidigen wir das Territorium. Unsere Wasservorkommen sind in Gefahr, eines der wichtigsten Elemente für das Leben“, wird Manuel Salvatierra, Präsident des indigenen Rates, zitiert.
Wenn wir in Europa saubere Lösungen für unsere Umweltprobleme wollen, tragen wir gleichzeitig Verantwortung für die Lebensperspektiven der indigenen Bevölkerung z.B. in der Atacama. Das eine geht nicht ohne das andere.
Eigentlich wollten wir nach den beiden Touren am Montag dienstags in den frühen Morgenstunden gleich wieder los – zu noch einer Tour über 4.000 m zu einer Lagune. Als der Bus eine Stunde nach der vereinbarten Zeit immer noch nicht bei unserer Lodge aufgetaucht war, erfuhren wir dann telefonisch, dass wir nicht auf der Fahrerliste gestanden hatten. Das gezahlte Geld bekämen wir zurück. Später stellt sich heraus, dass nicht die Agentur den Fehler gemacht hatte, sondern wir. Wir hatten die Buchung nicht mehr überprüft, denn dort war ein falsches Datum eingetragen. Das Geld gab’s doch zurück, und wir waren gar nicht so unglücklich über die Verschnaufpause und den „freien“ Tag. Vor allem, weil wir als Alternative eine Sternentour mit Observation gefunden hatten. Leider ist genau an diesem Abend der Himmel bewölkt und das Ganze wird abgesagt. Ruhetag heißt: In den Straßen von San Pedro schlendern, im Café sitzen, lesen, schreiben, schlafen und abends noch eine Kleinigkeit essen. Weil wir in einem Lokal ohne Alkoholkonzession sitzen, gab’s das Bier aus der Tasse: chilenischer Pharasäer
Wir sind am Ende der Welt. Das geht im 21. Jahrhundert ganz schnell. Mit dem Flieger von der Atacama im Norden Chiles nach Santiago – wo wir einen gemütlichen Grillabend mit der Familie hatten und am nächsten Tag noch Zeit genug war, um Nerudas Haus zu besuchen (mehr davon in einem anderen Blog) – und dann weiter mit dem Flieger nach Punta Areas, einer der südlichsten Städte der Welt. Von einem Extrem zum andern. Von der Wüste in die Steppe. Auf der Busfahrt vom Flughafen ins 19 Kilometer entfernte Punta Arenas, bekomme ich einen ersten Eindruck: linkerhand die Magellanstrasse – ein Sehnsuchtsort meiner Kindheit – rechterhand unendliches Weideland für Schafe. Die Lupinien blühen, Margeritenwiesen und Kamillebüsche, Pinien. Bunte Häuser wie in Schweden. Nein, bunter, denn die Dächer sind auch farbig: grellgrün, mint, blau, rot, kanariengelb. Bei näherem Hinsehen ist es aber keine Holzfassade wie in Schweden, sondern verzinktes Blech, das vor dem Wind schützt.
Zum Staunen ist dann wahrlich die Innenstadt: Prunkvolle Villen, kleine Chateaus, prächtige Bürgerhäuser, Pinienalleen. Europäische Architektur wie man sie von Wiesbaden oder von den Elbhängen her kennt. Dabei war diese unwirtliche Gegend an der Magellanstrasse Mitte des 19. Jahrhunderts noch der Ort, an den Schwerverbrecher hingebracht wurden. Aber in den letzten 2 Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts kamen Einwanderer aus England, Kroatien, Portugal und Dalmatien und nahmen sich das Land mit Duldung der chilenischen Regierung.
Was die Salpeterbarone für de Norden Chiles waren, wurden die Schafbarone für den Süden. Es entstanden riesige Haciendas in Magellanes und auf Feuerland, und ihren Reichtum stellten die „Neureichen“ in Punto Arenas zur Schau. Als dann noch die Kunde von Goldvorkommen in Feuerland kam, rollte die Einwanderungswelle noch schneller.
Gleichzeitg bedeutete das den Tod der Stämme der Selk’nam, nomadisierender Jäger. Die neuen Landbesitzer jagten und töteten sie systematisch. Die Regierung ließ sie gewähren. Es wurden Kopfprämien ausgesetzt. Es war ein Genozid an einem Volk, das dieses Land lange vor den „Landnehmern“ besiedelt hatte. Zurück in die Gegenwart: heute ist Punto Arenas eine lebendige Stadt, die vom Tourismus (auch Kreuzfahrtschiffe) lebt. Wir essen in einem der zahlreichen Restaurants und übernachten im stylischen Aparthotel Endurance, dessen Inneneinrichtung aus Holz von gekelterten Schiffen besteht. Am nächsten Tag geht es auf „chilenische Safari“ – mit dem Schiff zu Pinguinen, Seelöwen und Kormoranen.
Er hält seine Flossenflügel in der Horizontalen ausgestreckt und beginnt sie dann langsam und mit kurzen Pausen von oben nach unten zu bewegen, wartet ab, ob sein Gegenüber die Tanzbewegung aufnimmt, steigert das Tempo nach kurzer Zeit zu einem Flattern, schaut dabei unentwegt sein Gegenüber an, fordert es auf, die Bewegung mitzumachen, drängt, gibt nicht auf – vergeblich. Frustriert wendet er sich um, lässt Kopf und Schultern hängen und watschelt gebückt davon. Aber schon bald, reckt er sich wieder, streckt selbstbewusst die Brust heraus und nimmt die Abfuhr nicht weiter schlimm.
Wir sind inmitten einer riesigen Population Mangellanpinguine auf der Magdaleneninsel. 35.000 Paare – das sind mit Nachwuchs ca. 90.000 Tiere, bevölkern das karge Eiland in der Magellanstrasse auf der Höhe von Punto Arenas. Ich könnte stundenlang zusehen, und so geht es den meisten, die mit dem kleinen Schiff heute morgen vom Festland bei Punta Arenas aus aufgebrochen sind. Die Magellanpinguine, klein und putzig, sind die einzige Art, die überhaupt nicht menschenscheu ist. Im Gegenteil, bei der Ankunft des Schiffes begrüßen sie uns schon.
Wir gehen einen abgegrenzten Weg entlang zu einem einsam auf der Höhe stehenden Leuchtturm. Links und rechts von uns Tausende von Pinguinen. Sie stehen als Pärchen zusammen, still wie Statuen, um dann im nächsten Augenblick ruckartig, meist synchron, den Kopf zu drehen. Sie liegen faul in Höhlen, watscheln auch mal allein durch die Gegend, spielen miteinander, raufen, Mütter zupfen ihren Kinder den „Babyflaum“. Sie halten den Schnabel in die Höhe und stoßen krächzende Laute aus, rudern mit ihren kleinen „Ärmchen“ oder putzen sich gegenseitig.
Es war am Abend voher gar nicht sicher, ob es mit der Tour klappen würde – zu stürmisch! Doch das Wetter hat sich über Nacht beruhigt. Wir hatten die Fahrt bereits von Santiago aus bei Solo Expeditiones online gebucht und sind nicht enttäuscht worden. Zwar muss man bereits um 6:30 Uhr am Morgen in der Agentur sein (war nur ein paar Minuten von unserem Hotel entfernt), und es dauert eine Weile, bis alle Mitfahrer bezahlt haben, aber dann geht es mit einem Bus direkt zum Lageplatz der beiden Schiffe, der in der Nähe des Flughafens liegt.
Unterwegs sehen wir Delfine und sogar die Flosse eines Wals. Besser sehen, hören und riechen können wir allerdings die Seelöwen auf der zweiten Insel, die wir anlaufen, Marta Island. Hier können wir nicht an Land, doch auch vom Boot aus lassen sich die Urgetüme gut beobachten. Vor Mittag sind wir wieder zurück und haben noch genügend Zeit für einen Stadtbummel und einen Kaffee mit chilenischem Baumkuchen im La Chocolatta bevor wir in den Bus ins 240 Kilometer entfernte Puerto Natales einsteigen.
Das Busfahren über weitere Strecken ist in Chile angenehm, sehr organisiert, gut online buchbar – und die Busse sind pünktlich. Jedenfalls kann ich das von der Gesellschaft Bus-Sur sagen, mit der wir jetzt wiederholt unterwegs sind. Von Punto Areas bis nach Puerto Natales sind es 3 Stunden in nördlicher Richtung nahe der Grenze zu Argentinien, mitten durch menschenleeres Gebiet. Nur selten eine Hazienda, eine Ansammlung von Häusern. Kilometerlang eingezäunte Weiden für Rinder und Schafe, flaches braunes Gras- und Buschland bis zum Horizont, dazwischen Wälder mit vom Wind geformten Krüppelakazien und Pinien, die mit graugrünen Flechten überwuchert sind, manchmal ein See mit Flamingos, ein Fluss. Immer wieder Nandus, die aber nur meine Schwägerin entdeckt – ich bin nicht flink genug mit den Augen. Nur selten führt die Straße einen Hügel hinauf. Pampa. Am frühen Abend kommen wir in Natales an. Das ist jetzt ein Ort wie ich ihn mir in dieser arktisnahen Region vorstelle: kleine bunte blechverkleidete Häuser, die sich weit am Fjord entlang den Hang hinauf ziehen, kein Stadtkern im eigentlichen Sinn. Eine Mitte ist höchstens der Platz um die Kirche mit einem Park und modernen öffentlichen Gebäuden. Es gibt eine Unmenge von kleinen Geschäften für den täglichen Bedarf, fürs Trecking oder größere Expeditionen, Hostels, Restaurants, ein schönes Kunsthandwerkszentrum. Natales war schon immer Ausgangspunkt für Forscher und Entdecker. Heute ist es guter Start für einen Besuch des Nationalparks Torre des Peines.
Wir wohnen – wie bisher immer – sehr hübsch in einem familienbetriebenen Aparthotel. „ Vieto Patagonico“ liegt oben am Hang in der Nähe des Busbahnhofes. Zuerst dachten wir, dass wir ein wenig abgehängt von Restaurants und Einkaufsmöglichkeiten seien – in Natales gibt es keinen ortsinneren öffentlichen Nahverkehr. Doch dann stellte sich heraus, dass der Einheitspreis für das Taxi 1.500 Pesos sind, so dass man sich das zu dritt gut leisten kann. Außerdem ist der Fußweg doch nicht so weit wie angenommen. Und drittens fährt uns einer der Söhne der Familie wie selbstverständlich, wenn wir etwa zum Ausgangspunkt einer Tour wollen.
Das Haus selbst hat schöne Zimmer, einige mit Küche. Der Clou: Es hat ein ausgebautes Dachgeschoss mit einem Rundumblick auf den Fjord, die Berg- und Gletcherwelt.
Wir haben es also sehr gut, genießen den Abend und nehmen uns auch für den nächsten Tag, dem Geburtstag meines Schwagers – nicht viel vor, außer einer kostenfreien Stadtführung mit einem sehr kündigen jungen Chilenen. Ultimo Esperanca – so heißt der Fjord, an dessen Eingang Natales liegt. Es war die letzte Hoffnung des Seefahrers und Forschers Juan Ladrillero, im 16. Jahrhundert eine westliche Durchfahrt zur Magellanstrasse zu finden. Vergebliche Mühe. Aber der Ort liegt traumhaft schön am Anfang des Fjords, umgeben von den Gipfeln der Cordillere Riesco und den Eisfeldern. Bei Sonnenschein glitzert das Wasser, Schwarzhalsschwäne schwimmen nahe am Ufer, Kormorane besiedelt die Pfahlstege, die Schaumkrönchen der Wellen leuchten blendend weiß.
Und der Wind weht kräftig. Wie fast immer in Patagonien. Man braucht auch im Sommer eine Jacke! Unser Führer erzählt von den Mythen der Ureinwohner, die es nicht mehr gibt und deren nachgebildet Masken man in Souvenirläden erstehen kann, von den Schafbaronen, den Schlachthöfen und Wollfabriken, den Kämpfen der Arbeiter um bessere Arbeitsbedingungen. Er führt uns an der Skulptur eines eiszeitlichen Riesenfaultiers vorbei, dessen Überreste der deutsche Kapitän Eberhard am Ende des 19. Jahrhunderts in einer Höhle in der Nähe fand. Das Skelett war so gut erhalten, dass man auf die Suche nach noch lebenden Exemplaren ging, aber der Milodon darwinii ist schon seit 20.000 Jahren ausgestorben.
Wir erfahren, dass die Engländerin Lady Dixie als erste Frau von hier aus zu den Torres del Peines aufbrach, noch bevor das Land kartographiert war. „Across Patagonia“ heißt das Buch der Feministin, das sie über ihre Erlebnisse geschrieben hat.
Als wir an ein Denkmal kommen, das einen Ureinwohner in Fell bekleidet darstellt, wie er die Hand schüttelt mit einem Padre, bekommen wir Besuch. Der Bürgermeister des Ortes will uns etwas erzählen. Er lobt den jungen Gästeführer und hebt dann zu einer nicht enden wollenden dramatischen Rede an, unterstreicht das pathetisch Vorgetragene mit ausladenden Gesten, wünscht uns dann noch einen guten Tag und geht eiligen Schrittes wieder von dannen.
Eine mindestens ebenso resolute Frau aus Tel Aviv – älter als ich und gerade allein auf einer einjährigen Weltreise – übersetzt mir erst, dass der Bürgermeister einen Lobgesang auf die reichen Mäzene des Ortes gesungen habe, die so viel Gutes für Natales tun , u.a. mit einem Kirchenbau, was nicht hoch genug zu würdigen sei. Dann wiederum hebt die Weltreisende zu einer Gegenrede an: Warum man denn dankbar sein solle – schließlich hätten sich die heute reichen Familien damals einfach das Land genommen, die Arbeiter ausgebeutet, die indigene Bevölkerung gemordet. Da könne man doch heute nicht vor Ehrfurcht applaudieren, das seien doch Almosen. Und was, bitte schön, sollten die ärmeren Bewohner von Natales mit einer Kirche anfangen? Davon würden sich deren Lebensverhältnisse nicht bessern. Am Ende der Führung hat sie dann einen weiteren hochemotionalen Auftritt. In einer Ansprache an die Gäste der Führung, zu denen sie ja auch gehört, appelliert sie, den jungen Stadtführer entsprechend zu entlohnen. Er sei schließlich nur ein Volontee und erhalte keinen gerechten Lohn. Dem folgen denn auch alle. Vielleicht hat die alte Dame da ein wenig des Guten zu viel geredet, denn auch ohne ihren Aufruf hätten alle freiwillig gezahlt.
Das Eis schimmert unwirklich blau, so als wäre es nur eine momentane Farbvorspiegelung, eine Fata Morgana im Eis. Aber die Augen trügen nicht. Die Kamera beweist es (obwohl: Fatamorganen kann man auch fotografieren.) Eis, das Jahrhunderte von Jahren alt ist. Und jetzt schmilzt es seit ein paar Jahrzehnten rapide. Ich denke am Fräulein Smillas Gespür für Schnee und an die Schneekönigin. Aber ich habe es mir noch dramatischer vorgestellt. Größer. Weißer. Die Gletscher sind auch hier wie überall auf dem Rückzug. Und es ist Sommer in Patagonien.
Wir sind morgens mit dem Schiff in den Fjord hinein, an Seelöwen vorbei, die sich auf einem schmalen Felsvorsprung drängen. Die Jungen lernen dort zu springen.
Das Wetter ist diesig, die Sonne kämpft mit den Wolken, schafft es aber nicht. Die Felswände links und rechts des Fjods werden immer steiler und glatter. Wasserfälle stürzen senkrecht in die Tiefe.
Nach dem Balmaceda-Gletscher, den wir vom Schiff aus sehen, geht es weiter zum Serano-Eisfeld. Wir laufen ein Stück durch einen kleinen Wald am Gletschersee bis wir die Zunge erreicht haben. Landmarken zeigen, wie weit der Gletscher seit den 70er Jahren geschrumpft ist. Es kann einem Angst und Bange werden. Zurück auf dem Schiff gibt es Whiskey, mit Gletschereis natürlich. Und dann auf halber Strecke zurück nach Natales, landen wir und essen in einer großen Halle auf einer Estancia zu mittag an weiß eingedeckten Tischen: Suppe, Unmengen von gegrillten würzigen Lammkotellets, Kartoffeln, Salat, Dessert. 300 Menschen werden von einer kleinen Anzahl Personen mit einer Patrona versorgt. Jedes deutsche Qualitätsmanagement hätte seine Freude an den reibungslos ineinangreifenden Prozessesn. Ich fange an zu glauben, dass die Chilenen Talent zum Organisieren haben und dabei vielleicht sogar ein wenig unbürokratischer sind als wir Deutschen. Abends bin ich müde vom vielen Wind auf dem Schiff, dem Whyskey, dem guten Essen und dem Rotwein dazu.
Dies Bergwelt ist einfach nur grandios. Wir machen eine Tour durch den Nationalpark Torres del Peines. Eigentlich ist es ein Muss hier zu wandern – auf dem W-Trek zum Beispiel. Aber dazu fehlt die Zeit. Also begnügen wir uns mit einer Bustour mit nur einer kleinen Wanderung zum Gletscher Rey. Bizarr geformte Berggipfel, Seen und Lagunen, die in den unterschiedlichsten Blautönen um die Wette leuchten, reißende Flüsse, Wasserfälle, Kaskaden, Wälder, Hängebrücken. Das alles unter einem sich ständig ändernden Himmel. Der Wind treibt die Wolken so schnell, dass die spitzen Turmberge, die dem Park seinen Namen gaben, ständig anders aussehen: mal düster und unheimlich wie im Saurons Mordor, mal verlockend unter blauem Himmel, als sei hier der Eingang zum Elbenland.
Die Türme sind zweifarbig. Heller Granit und dunkles Sedimentgestein umschlingen sich. Es sieht aus, als habe der Turm eine weiße Schärpe um.
Die kurze Wanderung zum Gletscher Grey allerdings wird erschwert, weil das Wetter umschlägt. Durch ein kleines Waldstück, über eine bedenklich schwankende Hängebrücke laufen wir durch den trocken gelegten Teil des Gletschersees und dann auf dem künstlich angelegten Damm entlang. Um den Touristen überhaupt noch einen Blick auf die Gletscherzunge zu ermöglichen, hat man zu diesem Trick gegriffen. Es fängt an zu regnen, der Wind peitscht über den See, es regnet. Ich mache mich schnell zurück in den Bus. Das muss nicht sein.
Wir machen wieder kurz Zwischenstation in Santiago. Zum dritten Mal. Die Wege sind jetzt schon ein ganz klein wenig vertrauter. Aber nur ein wenig. Bei unserem zweiten Zwischenstopp hatten wir morgens noch Gelegenheit, einen Spaziergang im Barrio Bellavista zu machen. Das Viertel kommt mir vor wie die bunte, kreative Seite von Santiago. Cafés, Theater, Designer, Kunsthandwerk, Kneipen, Buchhandlungen, studentisches Leben. Auch wenn das Patio Bellavista – eine Einkaufs- und Café-Passagen um 10 Uhr am Morgen noch nicht so richtig wach ist, kann ich mir das Leben am Nachmittag und Abend gut vorstellen.
Hauptattraktion ist allerdings das Haus von Pablo Neruda, das Chascona. Eigentlich ist es kein Haus, sondern es sind 3 Pavillons, die ineinander verschachtelt und mit Treppen verbunden, an einem Hang gebaut wurden mit Blick auf die Berge und einen Garten mit Palmen, Wein, südländischen Pflanzen, Sitzecken, lauschigen Plätzen.
Neruda hat das Haus selbst mit geplant – und es spiegelt seine Poetik: organisch, fließend, und doch auf den Punkt, überbordend, humorvoll, parteiisch, dem Menschen zugewandt. Seine Sammelleidenschaft – seien es Schneeschüttelkugeln aus aller Herren Länder, Volkskunst aus den zahlreichen Stationen seines Exils und seiner Botschaftertätigkeit oder Kuriositäten -fasziniert.
In meinem Haus habe ich große und kleine Spielzeuge zusammengetragen, ohne die ich nicht leben könnte. Das Kind, das nicht spielt, ist kein Kind, aber der Mann, der nicht spielt, hat für immer das Kind verloren, das in ihm lebte und das ihm arg fehlen wird. Ich habe mein Haus auch als Spielzeug gebaut und spiele in ihm von morgens bis in die Nacht. Es sind meine eigenen Spielzeuge. Ich habe sie mein ganzes Leben hindurch gesammelt mit der wissenschaftlichen Absicht, mich allein mit ihnen zu unterhalten.
Aus:Pablo Neruda. Ich bekenne, ich habe gelebt. München 2003
Die zahlreichen Gemälde zeigen Nerudas Verbundenheit mit der bildenden Kunst. Das Esszimmer zeugt vom Genießer und Gastgeber Neruda. Es hat eine niedrige Decke und auch das ganze Interieur ist eine Anspielung auf „Die Verse des Kapitäns“, die Neruda zuerst anonym auf Capri veröffentlichte. Dort lebte er einige Zeit mit seiner großen Liebe und dritten Frau Matilde Urrutia, der die Verse gewidmet sind. Kurz nach Nerudas Tod hat Pinochet das Haus, das ein Gesamtkunstwerk ist, verwüsten lassen, noch während er eine dreitägige Staatstrauer angeordnet hatte. Mathilde Urrutia, die hier mit Neruda lebte, hielt in einem der Wohnräume mit Freunden die Totenwache. Sie durchwachte die Nacht in dem kalten Raum, dessen Fensterscheiben zerbrochen waren.
Es gibt Orte, an die ich gerne noch einmal im Leben zurück kommen möchte: die Lodge ganz oben auf dem Waterberg ist so ein Platz oder die Almhütte am Meraner Höhenweg. In der Erinnerung wird die Casa Wilson in Zapallar bestimmt auch zu solch einem Ort werden. Wir sind mit einem Mietwagen an den Pazifik gefahren. Die Fahrt raus aus Santiago war zuerst ein wenig schwierig: Wir hatten das Navi nicht richtig eingestellt, und ich musste mich auch erst daran gewöhnen, dass von 4 Spuren zwei zumeist nur für Busse und Taxis vorgesehen sind. Aber dann hat alles geklappt, und wir waren zügig auf der Route 5 unterwegs hinunter zum Pazifik.Zapallar liegt nördlich von Valparaíso und ist von den Badeorten dort DER Platz, an dem die „bestimmenden Familien“ (Reiseführer) des Landes Urlaub machen. Wir auch. Ein Chilene hatte am Ende des 19. Jahrhunderts – zurück von einer Europareise – mal einfach so die Idee, die Riviera an den Pazifik zu bringen und den Ort an einer kleinen Bucht „gegründet“. Die luxuriösen Häuser, die in den steilen Hang gebaut sind, folgen keiner Stilrichtung: Bauhaus, Hypermoderne, Jugendstil, Schweizerhaus ( mit Schnitzereien!!) und bayerischer Stil. DIe Gartenanlagen mit den farbenprächtigen Pflanzen – Bougainvillea, Hortensien, Geranien….- die hohen Nadelbäume mögen vielleicht einen gewissen Vergleich mit französischen Badeorten aufkommen lassen, aber das war es denn auch schon. Die wilde Brandung, die an die Granitküste donnert, die Gischt, die meterhoch aufspritzt, das Geräusch der rollenden Steine, die von der Kraft des Ozeans bewegt werden, die Pelikane, Möwen, Geier und Kormorane – das alles hat nicht viel zu tun mit der Riviera. Das atmet seinen ganz eigenen Geist.
Und dann die Casa Wilson. Gebaut wurde sie von einem Sohn deutscher Einwanderer 1905 – Carlos Werner Richter. Der Großvater des jetzigen Besitzers hat sie gekauft. Heute ist das Haus mehr ein Museum als ein Hotel. Die Gäste leben zusammen mit dem Eigentümer – Polospieler wie schon sein Vater – in dem Interieur von damals. Gefrühstückt wird an einer großen Tafel vor einem Kamin. Die Räume sind vollgepackt mit Erinnerungen. Gemälde, Wandteppiche, ein Klavier aus Berlin, Kuckucksuhren, Chippendalemöbel, chinesische Vasen, alte Fotos der Familie und bestimmt weit über 50 Pokale von Poloturnieren aus aller Welt.
Auch die Gästezimmer sind mit den alten Möbelstücken ausgestattet. Das Haus, mit Holzschindeln gedeckt, hat einen morbiden Charme, es müffelt überall ein wenig feucht – aber es ist einfach unvergleichlich (obwohl es wohl kleinen deutschen Standards entsprechen würde). Im baumbestandenen Terrassengarten, der sich bis zum Meer hinunterzieht, gibt es eine Unzahl an Eckchen und Sitzgelegenheiten, in die Jahre gekommene Liegen, Mäuerchen, Grillpätze. Man sitzt hier, blickt über die Bucht hinaus aufs Meer, beobachtet die Brandung, die Pelikane, wie sie mit elegantem Flügelschlag über das Wasser gleiten, sieht die Angler auf den Granitfelsen, die Fischer, die in ihren Booten hinausrudern, die Kinder, die sich am kleinen Sandstrand in die Wellen werfen – und ist verliebt in diesen Platz. Gegenüber erhebt sich ein kleiner Hügel auf einer Halbinsel, zu dessen Spitze ein Weg führt. Alle Arten von Sukkulenten und Kakteen wachsen dort. Ein von der Natur gestalteter Kakteengarten. Ein Spaziergang auf der „Strandpromenade“ um die Bucht herum, über Granitfelsen, mal schwarz, mal graubraun, mal rötlich, kann stundenlang dauern, weil man ständig stehenbleibt, staunt und schaut. Die Urgewalt des Ozeans – hier wird sie erfahrbar. Und dann ist da noch das Restaurant unterhalb der Casa, direkt am Meer. Ganz frische Meeresfrüchte, Fisch, Salate, guter chilenischer Weißwein und einen Pisco sour als Aperitif. Die letzten Tage in Chile. Morgen fahren wir über Valparaiso nach Santiago zurück. Und dann nach Deutschland.
Vater Ozean, wir wissen lange schon, / wie du heißt, alle / Möwen verbreiten / deinen Namen an den Gestaden: / Nun, betrage dich gut, / schüttle deine Mähne nicht, / bedrohe keinen Menschen, / zerschmettere am Himmel nicht / dein herrliches Gebiß, / höre auf mit den ruhmvollen Geschichten / für einen Augenblick, / gib jedem von uns Männern, / jedem / Weib und jedem Kind / einen großen oder kleinen Fisch / an jedem Tag. / Fisch auszuteilen, / geh hinaus auf alle Straßen / der Welt, / und dann / rufe laut, / rufe laut, / daß die Armen dich hören, / alle, die ihre Arbeit verrichten / und sagen, /den Kopf aus der Grube / streckend: / “Dort naht, / Fisch verteilend, /das uralte Meer.”
Morgens ist es in Zapallar lange diesig. Es dauert, bis die Wolken sich über der Steilküste verzogen haben. Das Leben beginnt deshalb in dem kleinen Urlaubsort etwas später. Nur die Fischer sind am Hafen, Tintenfische werden geschlagen, Muscheln ausgelöst. Pinguine, Möwen und der Wind haben den Strand für sich allein. Wir fahren nach Papudo, einem Familienbadeort eine Bucht weiter nördlich. Hier beginnt gegen Mittag das Strandleben, ungezählte bunte Sonnenschirme – wie in Italien, nur nicht in Reih‘ und Glied, Musik, die unermüdlich tönende Stimme eines Menschen, der wohl irgendetwas anpreist: Bootsfahrten, Karussellfahrten, Lose – ich weiß es nicht. Die Bucht hier ist viel langgezogener als in Zapallar, die beiden Sandstrände grösser. Dementsprechend ist auch die Bebauung. Keine kleinen, hinter Nadelbäumen verstecke Villen, keine Parkanlagen, sondern lang- und hochgestreckte Appartementbauten.
Wir fahren mit dem Boot zu einer Insel am Ende der Bucht. Was aus der Ferne wie ein schneebedeckte Eiland im Pazifik aussieht, ist eine vollkommen mit dem Kot von Pinguinen, Möwen und Seelöwen überzogener Fels.
Schade, dass am Ende so wenig Zeit für Valparaiso blieb. Aber man kann nicht alles haben. Wir fahren die kurvenreiche Küstenstraße nach Süden. Es geht langsam, nicht nur wegen der Kurven, und Straßenlöcher, auch wegen manch anderem Hindernis. So kriechen wir einige Zeit hinter einem Reiter, der 3 weitere Pferde mit sich führt. Vor Vina del Mar bekomme ich zuerst einmal einen kleinen Kulturschock: Wie ein Moloch breiten sich die Hochhäuser dieses, laut Reiseführers mondänen Badeortes an der Küste aus – und gehen dann ohne eigentliche Grenze ins Stadtgebiet von Valparaiso über. Wir parken, wie uns aus Sicherheitsgründen empfohlen wurde, in einem der Parkhäuser am Hafen. Riesige Dampfer liegen dort, und es scheint, dass heute, am Samstag, auch die Marinesoldaten Ausgang haben. Überall trifft man auf junge Männer in ihren leuchtend weißen Uniformen. Ich erwähne dass deshalb, weil das Weiß natürlich besonders heraussticht in dieser Hafenstadt mit ihrem Schmutz und ihren teils verfallenen, aber bunten Häusern und Graffitis. Valparaiso muss seinen besonderen Flair haben, das ahne ich. Der Architekturmix aus Bauten der Kolonialzeit, viktorianischem Stil und modernen Bauten hat seinen Reiz. Neben den hochherrschaftlichen ehemaligen Handelshäuser wirken die bunten Holzhäuschen in den Gassen die Hügel hinauf winzig. Auf den vielen kleineren Plätzen quirrlt das Leben: Lebensmittelmärkte, Flohmärkte, Kunsthandwerk. In den Straßen und Gassen herrscht Einkaufsgedränge. Die Sammeltaxis und O-Busse haben trotzdem noch Platz.
Wir nehmen aus Zeitmangel keinen der berühmten Ascensores, mit denen man auf die Hügel der Stadt fahren kann. Ein Taxi bringt uns hinauf zu Nerudas Haus, dem Sebastiana. Der Dichter hat schon gewusst, wo es sich gut leben lässt. Der Blick über die bunte Stadt und auf den Ozean ist fantastisch. Wieder unten entdecken wir zufällig ein kleines Café am Platz Anibal Punto, das sich anscheinen der Literatur verschrieben hat. In trauter Eintracht sitzen an einem Bistrotisch Neruda und Gabriela Mistral – in Pappmaché, aber mit richtigen Kleider. Ich hätte die erste Literaturnobelpreisträgerin Chiles zuerst für einen Mann gehalten, mit ihren im Profil herben Gesichtszügen und dem grauen Herrensakko. Ich weiß nicht, ob es Zufall war, dass mein Schwager auf der Fahrt zurück nach Santiago dann ein Essay von Siri Hustvedt vorliest: Beeing a man. Von der Ambivalenz der Geschlechter.
Die Chilenen lieben es, Wände zu bemalen, nicht nur in Valparaiso, sondern überall im Land. Mal Politart, mal esoterisch, mal realistisch. Hier eine kleine Auswahl.
Eine wunderbare Reise in einem herrlichen Land ist zu Ende. Auf der Landkarte sieht Chile wie eine skelettierte Wirbelsäule aus. Wir waren bei den Halswirbelsäulen, am Steißbein und irgendwo in der Gegend der Brustwirbeln. Von einem Ende zum anderen, von einem Extrem zum anderen, vom Norden in den Süden. Wir waren in der Atacama, der trockensten und unwirtschlichsten Wüste der Welt, die jeden in seinen Bann zieht, und wir waren in Südpatagonien an Gletschern und Fjorden. Wir waren in Santiago und am Pazifik – und haben doch nur einen kleinen Teil dieses Landes gesehen, das so europäisch wirkt wie kein anderes lateinamerikanisches Land, das ich bereist habe und das doch so fremd ist.
Noch nie habe ich so viele Inlandflüge gemacht, aber das ging bei der begrenzten Zeit nicht anders.
Wir waren zu dritt, und das hat wunderbar funktioniert. Und da meine Schwägerin spanisch spricht, war dies eine zusätzliche Erleichterung, denn englisch wird nicht überall gesprochen.
In seltenen Momenten kam doch ein wenig Wehmut auf. Da habe ich die ganz besondere Vertrautheit mit Hubert auf Reisen vermisst.