Es hatte einige Zeit gedauert, bis ich mich in Uwe Timms „Morenga“ eingelesen hatte.
Es irritiert, in diesem zurück genommenen, häufig protokollarisch anmutenden Sprachstil – in dem aber trotzdem immer wieder Fantasien und fantatsische Wortgebilde auftauchen – vom Aufstand der Hereros und Namas im damaligen „Deutsch-Südwestafrika“ zu lesen, von den Grausamkeiten der deutschen Kolonialherrn, der Unmenschlichkeit eines „Herrn“ von Trotha, dem ersten Völkermord der modernen Geschichte und dem „schwarzen Napoleon“ Jacobus Morenga, Volksheld, fast mythische Figur, Guerillakämpfer:
„Morenga reitet einen Schimmel, den er nur alle vier Tage tränken muss. Nur eine Glaskugel, die ein Afrikaner geschliffen hat, kann ihn töten. Er kann in der Nacht sehen wie am Tag. Er schießt auf hundert Meter jemanden ein Hühnerei aus der Hand. Er will die Deutschen vertreiben. Er kann Regen machen. Er verwandelt sich in einen Zebrafinken und belauscht die deutschen Soldaten.“
Aber Timm schreibt einen historischen Roman über deutsche Kolonialgeschichte nicht aus der Sicht Morengas: Die „Einheimischen-Perspektive“ als „Einfühlungsästhetik“ einzunehmen, wäre, so Timm 2003, „selbst ein kolonialer Akt“.
Es finden sich deshalb ganz viele Perspektiven in Morenga, aber sie sind immer deutsch.
Da ist vor allem der junge, pedantische Träumer und Veterinär Gottschalk, der sich freiwillig aus Hamburg zur Schutztruppe nach Südwest meldet. Sehnsuchtsbilder, der Wunsch nach kleinbürgerlicher Farmeridylle mit Klavierspiel vor exotischer Rahmung, treiben ihn an. Nach und nach setzt eine Verstörung ein angesichts der brutalen „Herrenkultur“ der Deutschen. Und gleichzeitig nimmt die Faszination gegenüber der fremdartigen Kultur der Nama zu. Das ändert auch die Sprache in seinem Tagebuch: Sie wird bildhaft, eigenwillig: „Morgens bei Sonnenaufgang, im Südosten ein wolliger Teppich, blaßrosa Färbung, die Ränder ausgefranst und lichtgrau. Vormittags blauschnigiert sich der Teppich langsam gegen Süden. Nachmittags Wollrollkroogen stahgrau gepunzt. Abends gegen 17:20 Uhr: Verweisung der Driftwolen nach Norden.Flaumig federich.“
Am Ende begreift Gottschalk desillusioniert, dass er ein Werkzeug des deutschen Kolonialismus ist.
Großartig ist die Struktur des Romans: ganz unterschiedliche Textarten – akribisch recherchierte Dokumente, wissenschaftliche Abhandlungen, fiktive Tagebucheintragungen, fantastischer Realismus werden zusammen montiert; viele Handlungsstränge, die entwickelt werden, verschwinden, wieder auftauchen: Entwicklungsroman, Dokumentaroman und fantastische Erzählung in einem.
„Morenga“ ist für mich nicht nur deswegen große Literatur. Sondern auch, weil der Roman sich von der Zeit, aus der er erzählt, bis in die aktuelle Gegenwart bohrt: Er dringt in unsre – zuweilen kitschigen Afrika-Sehnsüchte ebenso wie in unsere Ängste gegenüber dem „schwarzen Mann“.