Das Busfahren über weitere Strecken ist in Chile angenehm, sehr organisiert, gut online buchbar – und die Busse sind pünktlich. Jedenfalls kann ich das von der Gesellschaft Bus-Sur sagen, mit der wir jetzt wiederholt unterwegs sind. Von Punto Areas bis nach Puerto Natales sind es 3 Stunden in nördlicher Richtung nahe der Grenze zu Argentinien, mitten durch menschenleeres Gebiet. Nur selten eine Hazienda, eine Ansammlung von Häusern. Kilometerlang eingezäunte Weiden für Rinder und Schafe, flaches braunes Gras- und Buschland bis zum Horizont, dazwischen Wälder mit vom Wind geformten Krüppelakazien und Pinien, die mit graugrünen Flechten überwuchert sind, manchmal ein See mit Flamingos, ein Fluss. Immer wieder Nandus, die aber nur meine Schwägerin entdeckt – ich bin nicht flink genug mit den Augen. Nur selten führt die Straße einen Hügel hinauf. Pampa.
Am frühen Abend kommen wir in Natales an. Das ist jetzt ein Ort wie ich ihn mir in dieser arktisnahen Region vorstelle: kleine bunte blechverkleidete Häuser, die sich weit am Fjord entlang den Hang hinauf ziehen, kein Stadtkern im eigentlichen Sinn. Eine Mitte ist höchstens der Platz um die Kirche mit einem Park und modernen öffentlichen Gebäuden. Es gibt eine Unmenge von kleinen Geschäften für den täglichen Bedarf, fürs Trecking oder größere Expeditionen, Hostels, Restaurants, ein schönes Kunsthandwerkszentrum. Natales war schon immer Ausgangspunkt für Forscher und Entdecker. Heute ist es guter Start für einen Besuch des Nationalparks Torre des Peines.
Wir wohnen – wie bisher immer – sehr hübsch in einem familienbetriebenen Aparthotel. „ Vieto Patagonico“ liegt oben am Hang in der Nähe des Busbahnhofes. Zuerst dachten wir, dass wir ein wenig abgehängt von Restaurants und Einkaufsmöglichkeiten seien – in Natales gibt es keinen ortsinneren öffentlichen Nahverkehr. Doch dann stellte sich heraus, dass der Einheitspreis für das Taxi 1.500 Pesos sind, so dass man sich das zu dritt gut leisten kann. Außerdem ist der Fußweg doch nicht so weit wie angenommen. Und drittens fährt uns einer der Söhne der Familie wie selbstverständlich, wenn wir etwa zum Ausgangspunkt einer Tour wollen.
Das Haus selbst hat schöne Zimmer, einige mit Küche. Der Clou: Es hat ein ausgebautes Dachgeschoss mit einem Rundumblick auf den Fjord, die Berg- und Gletcherwelt.
Wir haben es also sehr gut, genießen den Abend und nehmen uns auch für den nächsten Tag, dem Geburtstag meines Schwagers – nicht viel vor, außer einer kostenfreien Stadtführung mit einem sehr kündigen jungen Chilenen.
Ultimo Esperanca – so heißt der Fjord, an dessen Eingang Natales liegt. Es war die letzte Hoffnung des Seefahrers und Forschers Juan Ladrillero, im 16. Jahrhundert eine westliche Durchfahrt zur Magellanstrasse zu finden. Vergebliche Mühe. Aber der Ort liegt traumhaft schön am Anfang des Fjords, umgeben von den Gipfeln der Cordillere Riesco und den Eisfeldern. Bei Sonnenschein glitzert das Wasser, Schwarzhalsschwäne schwimmen nahe am Ufer, Kormorane besiedelt die Pfahlstege, die Schaumkrönchen der Wellen leuchten blendend weiß.
Und der Wind weht kräftig. Wie fast immer in Patagonien. Man braucht auch im Sommer eine Jacke!
Unser Führer erzählt von den Mythen der Ureinwohner, die es nicht mehr gibt und deren nachgebildet Masken man in Souvenirläden erstehen kann, von den Schafbaronen, den Schlachthöfen und Wollfabriken, den Kämpfen der Arbeiter um bessere Arbeitsbedingungen. Er führt uns an der Skulptur eines eiszeitlichen Riesenfaultiers vorbei, dessen Überreste der deutsche Kapitän Eberhard am Ende des 19. Jahrhunderts in einer Höhle in der Nähe fand. Das Skelett war so gut erhalten, dass man auf die Suche nach noch lebenden Exemplaren ging, aber der Milodon darwinii ist schon seit 20.000 Jahren ausgestorben.
Wir erfahren, dass die Engländerin Lady Dixie als erste Frau von hier aus zu den Torres del Peines aufbrach, noch bevor das Land kartographiert war. „Across Patagonia“ heißt das Buch der Feministin, das sie über ihre Erlebnisse geschrieben hat.
Als wir an ein Denkmal kommen, das einen Ureinwohner in Fell bekleidet darstellt, wie er die Hand schüttelt mit einem Padre, bekommen wir Besuch. Der Bürgermeister des Ortes will uns etwas erzählen. Er lobt den jungen Gästeführer und hebt dann zu einer nicht enden wollenden dramatischen Rede an, unterstreicht das pathetisch Vorgetragene mit ausladenden Gesten, wünscht uns dann noch einen guten Tag und geht eiligen Schrittes wieder von dannen.
Eine mindestens ebenso resolute Frau aus Tel Aviv – älter als ich und gerade allein auf einer einjährigen Weltreise – übersetzt mir erst, dass der Bürgermeister einen Lobgesang auf die reichen Mäzene des Ortes gesungen habe, die so viel Gutes für Natales tun , u.a. mit einem Kirchenbau, was nicht hoch genug zu würdigen sei. Dann wiederum hebt die Weltreisende zu einer Gegenrede an: Warum man denn dankbar sein solle – schließlich hätten sich die heute reichen Familien damals einfach das Land genommen, die Arbeiter ausgebeutet, die indigene Bevölkerung gemordet. Da könne man doch heute nicht vor Ehrfurcht applaudieren, das seien doch Almosen. Und was, bitte schön, sollten die ärmeren Bewohner von Natales mit einer Kirche anfangen? Davon würden sich deren Lebensverhältnisse nicht bessern.
Am Ende der Führung hat sie dann einen weiteren hochemotionalen Auftritt. In einer Ansprache an die Gäste der Führung, zu denen sie ja auch gehört, appelliert sie, den jungen Stadtführer entsprechend zu entlohnen. Er sei schließlich nur ein Volontee und erhalte keinen gerechten Lohn. Dem folgen denn auch alle. Vielleicht hat die alte Dame da ein wenig des Guten zu viel geredet, denn auch ohne ihren Aufruf hätten alle freiwillig gezahlt.
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