Reisen

Ihr wolltet Abenteuer? Ihr bekommt Abenteuer!

Hranice ist ein hoffnungsloser Ort. Die Menschen sind freundlich, aber ohne Zukunft. 2.000 leben noch hier von ehemals 6.000. Textil- und Glasindustrie gibt es nicht mehr. In den ehemaligen Fabrikhallen arbeiten Zuliefererfirmen mit gering qualifiziertem Personal, erzählt man uns. Ganz anders als im adretten Bad Elster, das einen Boom zu erleben scheint, sind hier – wenige Kilometer und eine Grenze weiter – viele Häuser verfallen, das Restaurant Rossbach, benannt nach dem früheren Namen von Hranice, ist eine ausgebrannte Ruine mitten im Ortskern. Der Asia-Laden ist das einzige Lebensmittelgeschäft, und irgendwie konnte ich mir nicht vorstellen, dass in diesem verlorenen „Zipfel Tschechiens“, der hier in das Gebiet der Bundesrepublik hineinreicht, das nette kleine Hotel zu finden ist, das wir gebucht hatten. War es auch nicht.
Es gibt nämlich noch ein Hranice, östlich von Prag. Dort hatten wir über ein Hotel-Portal gebucht.
Die einzige Übernachtung in dem Hranice, in dem wir gerade angekommen war,  gibt es in der „Familienpension Kim“. Darüber informiert auch unser Reiseführer mit dem Hinweis, unbedingt vorher dort anzurufen. Das war aber ja jetzt nicht mehr möglich. Wir sind schon im Ort und klingeln eine etwas verwirrt blickende junge Frau aus dem nicht sehr einladend schauenden Etablissement heraus. Nach einigem Zögern bittet sie uns herein. In einen ungepflegten Gartenbereich: überall Sitzecken mit verdreckten Sofas, gebrauchte Kaffeetassen und volle Aschenbecher auf Couchtischen. Eine zweite und eine dritte Frau kommen, alle sprechen kaum tschechisch, englisch oder deutsch. Ein junger Mann sitzt mit Ohrstöpseln in einem Sessel und ignoriert uns vollständig. Wir sind hier Fremdkörper. Wir können ihnen klar machen, dass wir übernachten wollen. Eine Frau verschwindet und kommt bald darauf mit schmutziger Bettwäsche aus dem Haus. Die andere bringt Tassen, in denen sich mit heißem Wasser übergossenes Kaffeepulver befindet. Sie erzählt uns in gebrochenem Deutsch, dass es hier schrecklich sei, dass sie aus Serbien komme und dass sie weg wolle. Dann kommen zwei weitere Männer. Einer erklärt, dass die Zimmer 12 Euro pro Person kosten. Wir haben inzwischen WLAN und nach einigen Fehlversuchen das Zimmmer im falschen Hanice kostenlos stornieren können.

Zimmer in der „Familienpension Kim“ in Hranice

Zimmerbesichtigung: Das Haus entstammt einem Hitchcock-Krimi. Düsteres Treppenhaus, Wände und Decken vollkommen mit Holz verkleidet, alles verstaubt und schmuddelig, riesige Heiligengemälde neben zugestaubten Trockenblumen, Weihnachtskugeln, Kitschfiguren. Die Zimmer sind noch schlimmer als das Treppenhaus. Ein Bett mit einem stoffgepolsterten Kopfende, überall Spiegel, Gelsenkirchener Barock, zerschlissene Sessel, den schmutzigsten Teppichboden, den ich je gesehen habe. Aber: Auf der kunstvoll arrangierten Bettdecke liegt eine rote Kunstrose. Das habe sie in einem Hotel in Zürich gelernt, wo sie gearbeitet habe, erklärt die Serbin. Annette und ich schauen uns an, lassen uns die Schlüssel geben, verstauen die Rucksäcke und flüchten nach draußen , um Luft zu holen. Es bleibt uns nichts übrig. Wir müssen hier die Nacht verbringen!
Die Kirche von Hranice soll sehenswert sein mit einer seltenen Orgel. Wir holen bei der Küsterfrau den Schlüssel. Sie spricht, hier geboren, ein gepflegtes fränkisch. Und bestätigt uns erst einmal das, was wir über unsere „Herberge“ vermuten. Sie ist so was wie eine Absteige. Die jungen Männer bringen zuweilen die Freier zu den Frauen ins Haus

Taufbecken in der Kirche von HraniceWir wollten Abenteuer. Wir haben es! Zwei Omas übernachten im Puff!
Im Dorf gibt es nichts zu essen, aber wir entdecken ein Schild Richtung Grenze – wo wir morgen sowieso hin müssen – Familienrestaurant mit Einkaufsmöglichkeiten in 1,5 Kilometern. Dort essen wir, kaufen für morgen früh ein, weil es natürlich sonst nirgendwo etwas zum Frühstück gibt, und trinken am frühen Abend noch ein Bier. Vorbereitung auf eine Nacht in Schmuddelzimmern und hoffentlich ohne Ungeziefer. Ich vermisse Huberts dünnen Reiseschlafsack „für alle Fälle“.
Dabei hatte der Tag gut angefangen mit einem Glas Wasser aus der Heilquelle in Bad Elster, einem Spaziergang durch den Park, dann vorbei an wunderbar restaurierten Villen aus ganz verschiedenen Stilepochen, über eine einsame Landstraße bergaufwärts zur tschechisch-deutschen Grenze.

Trinkhalle im Kurpark von Bad Elster


Auf dem Weg von Bad Elster nach Hranice

5 Kommentare

  1. Meine Leser

    Au weia, liebe Barbara, was für ein Anfang! Das kann ja nur besser werden. Ich wünsche euch einen schönen Abend und eine GUTE NACHT!
    Gruß Helga

    • Baobab

      Liebe Helga,wir haben es überstanden. Und die Sache hatte 3 Vorteile:1) Diese Geschichte wird immer Erzählstoff bleiben. 2. Als wir es morgens vor 7:00 Uhr geschafft hatten, die Aussentür zu öffnen, haben wir Tränen gelacht. 3. Der heutige Wandertag,der mit einem Automatenkaffee an der Grenztanke begann, hat alles doppelt wieder gut gemacht.

  2. Meine Leser

    Ich fand die Story supi und wäre gerne dabei gewesen.Das ist doch ein Erlebnis

  3. Meine Leser

    Ich denke für die Damen war es auch eine Abwechslung. Wie man so liest, laufen die Geschäfte eher zäh. Da kommen so zwei alte Mädchen, die sich ins Bordell verirrt haben doch gerade recht, die Langeweile zu vertreiben. Die werden Tränen gelacht haben…

    Aber mal ehrlich: ich wäre da nicht geblieben. Mit dem Taxi zurück in die Zivilisation und am nächsten Morgen wieder nach Hranice zum Wiedereinstieg in die Wanderung. Mutig seid Ihr, Hut ab!

  4. Juchei

    Danke für den Text. So bleibt mir die Übernachtung dort erspart. Sonst hätte mich das Unglück selber überfallen.

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